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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Westoe
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Rotweingläsern. Wir hatten uns in Decken geschlungen, denn die Abende waren noch kühl, blickten auf die ölig graue Fläche des Sees hinaus und unterhielten uns tastend über Tallinge und Svartviken und meine Jahre auf dem Gymnasium, zum ersten Mal überhaupt sprachen wir über vergangene Zeiten. Nach einer Weile kamen wir auf das Abiturjahr zu sprechen und riefen uns ins Gedächtnis, wie Leeni ihre geliebte Lyrik benutzt hatte, um mich in den Sprachen zu drillen, die Abiturfächer waren. Die meisten Texte hatten wir in ihrer Unterrichtssprache, ihrer großen Liebe, gelesen: Englisch. Die Erinnerung an die Gedichtabende führte zu unserem besten Gespräch in den vergangenen neun Jahren. Leeni wurde eifrig, genau wie ich, denn ich hatte wirklich lebhafte Erinnerungen an diese Abende im Winter vor meinem Abitur. Pete Everi hatte Tallinge zwar verlassen, und seine Rockbands hatten sich aufgelöst, aber ich träumte noch davon, ein großer Songtexter zu werden, ich saugte Eindrücke und Informationen auf wie ein Schwamm.
    Die Tatsache, dass meine Mutter ein kühler und gehemmter Mensch und unsere Beziehung distanziert geblieben war, hatte nie verdeckt, wie stolz es sie machte, dass ich es zum Journalisten und Schriftsteller gebracht hatte. Sie arbeitete noch als Lehrerin und hatte mir gestanden, dass sie meine Erzählungen im Unterricht benutzte. Inzwischen führte sie Osmos Nachnamen Rainio, so dass sie deshalb nicht in den Verdacht der Vetternwirtschaft geriet. Aber obwohl Leeni stolz auf mich war, legte sie doch großen Wert auf ihre Würde und meldete sich nie bei mir, um Freiexemplare oder Theaterkarten zu ergattern. Meine Bücher schickte ich ihr unaufgefordert, aber Aufsicht hatten Osmo und sie in Helsingfors gesehen, ohne sich vorher bei mir zu melden. »Warum hast du mich nicht von unterwegs angerufen«, hatte ich hinterher zu ihr gesagt, »ich hätte euch Freikarten besorgt.« »Ich wollte dir nicht unnötig zur Last fallen«, hatte Leeni geantwortet, »außerdem kannst du sicher alle Karteneinkünfte gebrauchen, die du kriegen kannst, ich bekomme doch schon deine Bücher gratis.« Das war eine Ausrede, denn ich begriff, dass sie das Stück ohne mich hatte sehen wollen, weil sie befürchtete, dass es ihr nicht gefallen würde. Wahrscheinlich hatte sie die Besprechungen gelesen und sich Sorgen gemacht, dass die Hauptfigur, die Frau, die ihr Leben lang für einen kleinen Fehler bezahlen muss, sie selbst sein würde.
    »Welches von unseren Übungsgedichten hat dir am besten gefallen«, fragte sie, als wir am See saßen, »gibt es Texte, an die du heute noch denkst?«
    » Funeral Blues «, antwortete ich, »und Do Not Go Gentle Into That Good Night .«
    Leeni lächelte schief.
    »Dann bist du der Sohn deines Vaters.« Sie erkannte augenblicklich, was sie gesagt hatte, seufzte verlegen und fügte widerwillig hinzu: »Na ja, ich meine deines leiblichen Vaters.«
    Ich witterte meine Chance.
    »Wieso sein Sohn?«, hakte ich nach und wusste, dass sie mir nicht mehr ausweichen konnte.
    Daraufhin erzählte sie zum ersten und letzten Mal und ohne Ausflüchte, als es um weniger angenehme Fakten ging. Sie verschwieg mir mit Sicherheit immer noch das eine oder andere, aber das machte nichts, viel wichtiger war, dass sie endlich den Mund aufmachte.
    Sie saß in ihre Decke gehüllt und erzählte, wie sie, Leeni Flinck, frischgebackene Abiturientin mit Bestnoten und bereits an der Universität von Helsingfors eingeschrieben, den Sommer über in Vanonens Geschäft Schuhe verkauft hatte und dort mit einer der Aushilfsverkäuferinnen ins Gespräch gekommen war: Lydia Wahl, Ariels Mutter. Ariel wurde in die letzte Klasse des Gymnasiums versetzt, hatte aber in vielen Fächern schlechte Noten, und Lydia Wahl – »eine gut aussehende, aber harte Frau«, erklärte Leeni – überredete ihre junge Kollegin, ihrem Sohn Nachhilfeunterricht in Englisch zu geben. Leeni wusste, wer Ariel war:
    »Ehrlich gesagt ging das Gerücht, er sei seltsam, so dass ich ein bisschen Angst vor ihm hatte. Aber wenn man ihn kennenlernte, war er vollkommen harmlos. Er hatte immer seine Gitarre dabei. Wenn wir eine Pause machten und Tee tranken, spielte er für mich, er war sehr gut, jedenfalls fand ich das damals.«
    Aber zwischen ihnen war nichts gewesen, beeilte Leeni sich hinzuzufügen, es hatte keinerlei Spannung oder Sehnsucht gegeben, jedenfalls nicht von ihrer Seite aus. Ariel war fast zwei Jahre jünger als sie und nun wirklich kein strahlender

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