Geh nicht einsam in die Nacht
ehrlich gesagt waren wir sternhagelvoll, und an meine Antwort erinnere ich mich nur vage. Ich glaube, ich sagte in etwa, dass wir immer Essen auf dem Tisch und Strom im Haus und Geschenke unter dem Weihnachtsbaum gehabt hatten, wie es sich gehörte, und er und Leeni seien als Eltern völlig in Ordnung gewesen, mehr könne ein Kind nicht verlangen. Aber mitten in meinem Rausch schmerzte eine Frage in mir: Wie oft vermisste Henry eigentlich mich in seinem schwedischen Leben, vermisste er mich überhaupt? Es war nur so schwer, diese Art von Fragen zu stellen.
Bevor wir uns eine gute Nacht wünschten und auf unsere Zimmer gingen, lud ich Henry nach Helsingfors ein, ich sagte, er könne ein paar Tage bei mir wohnen, sich in seiner alten Heimatstadt umschauen und anschließend von dort die Fähre nach Schweden nehmen, statt von Vasa. Henry lehnte höflich ab, er habe Maj-Britt versprochen, sofort zurückzukommen, sie wollten mit der Renovierung des Sommerhauses fertig werden, bevor es richtig nasskalt wurde. Als wir uns beim Frühstück sahen, war die Vertrautheit vom Vorabend wie weggeblasen, wir begegneten einander schüchtern und litten zudem beide an einem schweren Kater. Nachdem Henry in seinen Saab gestiegen und gefahren war – er hätte sich so früh am Tag eigentlich nicht ans Lenkrad setzen sollen, tat es aber trotzdem –, wurde ich von dem Gefühl übermannt, dass wir uns soeben zum letzten Mal voneinander verabschiedet hatten. Henry war schon Ende fünfzig, er hatte sich von Finnland entfernt, und ich kam auch nicht gerade oft in die Gegend von Norrtälje.
In diesen Tagen in Jyväskylä mussten auch einige Angelegenheiten geregelt werden. Ich hatte versprochen, für einen Teil der Beerdigungskosten aufzukommen, und das tat ich auch. Zum Grabstein hatte ich keine nennenswerte Ansicht, und da sowohl Raili als auch Meeri fanden, dass meine Mutter neben Osmo in Jyväskylä beerdigt werden sollte, erklärte ich mich einverstanden. Ich war der einzige aus unserer Familie, der noch in Helsingfors lebte, und es wäre mir kindisch erschienen, auf einem Friedhof dort zu bestehen. Ehrlich gesagt versuchte ich, mich aus all diesen Dingen möglichst herauszuhalten, die rituellen und formellen Aspekte des Todes erschreckten mich, durch sie wurde auf einmal alles so konkret.
Bei den einleitenden Verhandlungen über das Erbe machten Osmos Söhne Jaakko und Taneli einen recht sympathischen Eindruck, und ich glaubte, dass die Aufteilung der Erbmasse einfach und problemlos vonstatten gehen würde. Trotzdem teilte ich umgehend mit, dass mich ein Rechtsbeistand vertreten würde. Ich kannte mich in Fragen des Erbrechts nicht aus, und die Verhältnisse und Beziehungen in Jyväskylä, wo Leeni in ihren letzten Lebensjahren gewohnt hatte, waren mir unbekannt. Deshalb fand ich es besser, wenn ein anderer sich der Sache in meinem Namen annahm.
Die Erbverteilung verlief dann bei weitem nicht so unkompliziert, wie ich geglaubt hatte, aber nach langwierigen Auseinandersetzungen stellte sich heraus, dass Osmo Besitzer eines ansehnlichen Vermögens gewesen war, es keinen Ehevertrag gegeben hatte und Leeni all ihre Ersparnisse in die gemeinsame Wohnung gesteckt hatte. Folglich war ich Alleinerbe des Reihenhauses am Seeufer sowie einiger Möbel und persönlicher Gegenstände, Schmuck, Fotoalben und Ähnlichem. Als ich die Wohnung verkaufte, bekam ich überraschend viel Geld für sie, die Wirtschaftskrise hatte die Preise zwar schon sinken lassen, aber sie war offenbar ein begehrtes Objekt. Ich platzierte das Geld auf ein paar Konten, die hohe Zinsen abwarfen, und mitten in der sich verschärfenden gesellschaftlichen Misere ging es mir finanziell besser als je zuvor, besser als in der Zeit, in der ich für KYVYT schrieb und ein junger, viel beachteter Schriftsteller war.
Aber das Geld tat mir nicht gut. Ich hatte schon seit längerem Probleme gehabt, mich zum Arbeiten zu motivieren. Nun verlor ich endgültig jegliche Motivation. Das mütterliche Erbe gab mir die Chance, eine Weile zu tun, was immer ich wollte, und ich entschied mich zu trinken. Vier Jahre verbrachte ich so.
* * *
Eva Mansnerus begegnete ich in diesen Jahren nicht besonders oft, vor allem, weil ich mir ihre Obermutterkritik meines faulen Lebensstils ersparen wollte: Sie wiederholte gebetsmühlenartig, ich würde mein Talent und meine Seele verschleudern.
Ich wusste, dass Eva Recht hatte. Das Leben als Bohemien und die One-Night-Stands machten keinen Spaß, und es ließ
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