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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Westoe
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Ausweichmanöver gezwungen worden war und dabei die Kontrolle über das Auto verloren hatte. Ein LKW-Fahrer traf als Erster am Unfallort ein, es war weniger als eine Minute nach dem Unglück vergangen, und zu diesem Zeitpunkt, so der Bericht, »lebte Frau Rainio noch, blutete jedoch stark und war bereits sehr mitgenommen«.
    Die Beerdigung fand in Jyväskylä statt. Obwohl ich ein mulmiges Gefühl dabei hatte, nahm ich das Auto und wohnte zwei Tage in einem düsteren Sokos-Hotel. Osmos Verwandte boten mir an, in der Reihenhauswohnung vor den Toren der Stadt zu schlafen, aber das konnte ich nicht. Ich sah Leeni in ihre Decke gehüllt am Seeufer sitzen und wollte mir dieses Bild als letzte Erinnerung an den Ort bewahren.
    Die Bestattung fand in Anwesenheit eines Sammelsuriums von Fremden statt, die meisten weinend und schluchzend, andere nur ernst. Als wir in unseren Bankreihen saßen und auf den Beginn der Zeremonie warteten, merkte ich, dass in den Reihen hinter mir da und dort getuschelt wurde. Ich verstand die Worte nicht, konnte sie mir aber lebhaft vorstellen: Wer ist denn das da vorn? Das ist Leenis Sohn aus Helsingfors. Dieser Schreiberling? Ja, genau. Es heißt, dass er sie nicht besonders oft besucht hat. So, so.
    Zu den Fremden gehörten auch Großmutter Raili, Tante Meeri und meine Cousinen und Cousins Jukkis, Merja und Sami. Ich hatte sie seit Jahren nicht mehr gesehen, und wenn ich es nicht schon früher begriffen hatte, verstand ich in diesem Moment endgültig, dass ich für meine Bemühungen, mich von der großen Lüge zu befreien, die sich durch meine Jugend gezogen hatte, auch einen hohen Preis gezahlt hatte. Als wir den Sarg trugen, ging ich hinten links, die anderen Träger waren Jukkis, Sami, Railis Mann Matti sowie der Rektor und ein zweiter Lehrer von Leenis Schule. Während wir langsam den Mittelgang der Kirche hinabgingen und der Kantor auf der Empore Albinoni spielte, kam mir plötzlich der Gedanke, dass meine Mutter ein ziemlich einsamer Mensch gewesen war und für mich das Gleiche galt. Da hatten wir bereits die hintersten Bankreihen erreicht. In der allerletzten Reihe, ganz hinten in der Ecke, erblickte ich Henry. Ich zuckte zusammen und verlor für den Bruchteil einer Sekunde den Tragriemen. Ich war kurz davor, meine Ecke des Sargs zu verlieren, mit allem, was dies an Kettenreaktionen und Katastrophen zur Folge hätte haben können. Als er sah, was sich anbahnte, riss Henry erschrocken die Augen auf und sah entsetzt, fast panisch aus, und sein Blick schrie Aber das wollte ich doch nicht . Dann bekam ich den Riemen wieder zu fassen und reckte mich, und wenige Sekunden später traten wir auf die Kirchentreppe hinaus, und die Luft war hoch und klar, und die Bäume brannten im Sonnenschein rot und gelb, und hinter uns erschallte das schöne Adagio, als würde es tief unten in einem Brunnen gespielt.
    Bei der Trauerfeier in einem Café im Stadtzentrum hatte ich mich von der Überraschung schon wieder erholt. Außerdem hatte ich auf dem Friedhof ein paar Worte mit Henry gewechselt und festgestellt, dass er im selben Hotel wohnte wie ich, woraufhin wir uns geeinigt hatten, zu späterer Stunde zusammen zu essen.
    Ich spielte meine Rolle den ganzen Tag über so gut ich konnte, ich spielte sie, bis ich in mein Hotelzimmer kam und den schwarzen Anzug und die Krawatte ausziehen und mich auf die Minibar stürzen durfte. Ich war der einzige Sohn, ich war höflich und zuvorkommend und zeigte ein angemessenes Maß an Trauer, nicht zu viel und nicht zu wenig. Aber damals, zu Anfang, verstand ich meine Trauer noch nicht wirklich, ich war mir nicht einmal sicher, ob ich trauerte, da war nichts als Leere. Die Begegnung mit den Verwandten und das tiefgreifende Gefühl der Fremdheit zwischen ihnen und mir hatte mir etwas in Erinnerung gerufen, was Eva Mansnerus vor langer Zeit geäußert hatte, noch bevor sie von Ariel erfahren hatte. Eva meinte damals, meine verwandtschaftlichen Beziehungen erschienen ihr nicht wirklich normal, sie hatte sogar Worte wie »frostgeschädigt« und »abnorm« benutzt. Andererseits, wo verliefen die Grenzen des Normalen, und wer hatte das Recht, sich in solchen Fragen zum Richter aufzuschwingen? Und falls Eva Recht gehabt haben sollte, falls meine Gefühle abnorm waren, was konnte man da schon machen, wie stellte man es an, Gefühle herbeizuzaubern, die es nicht gab?
    Henry und ich saßen an jenem Abend lange im Hotelrestaurant zusammen. Unsere Unterhaltung verlief einigermaßen

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