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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Westoe
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wortkarg und gar nicht wie im Film, wenn die Angehörigen am Abend in der Küche sitzen und der schmerzliche Verlust die Zungen lockert und jeder eine lebenspralle und lustige Erinnerung an den Verstorbenen mitzuteilen hat, bis irgendwer, oft der Jüngste oder der Älteste, die ergreifende Erinnerung aus dem Gedächtnis kramt, die in die Augen aller Tränen treten lässt.
    Wir sprachen im Grunde nur recht wenig über Leeni, ihr Tod war noch zu frisch. Irgendwann fiel uns der wunderbare Lammtopf ein, den sie in den ersten Jahren nach unserem Umzug nach Tallinge zubereitet hatte, und wir fragten uns, warum er vom Speiseplan verschwunden war, wir konnten uns an keine Lammtöpfe aus späterer Zeit erinnern. In einer anderen Phase des Abends erinnerten wir uns an ihre freundlichen, aber unerbittlichen Verbesserungen, wenn man auf Englisch oder Finnisch etwas schlampig formulierte. Ansonsten redeten wir über anderes, wir sprachen zögernd, aber offen, und das Gespräch verlief zwar schleppend, aber angenehm, es erinnerte mich an meine Pubertät, wenn Leeni übers Wochenende zu Lehrerseminaren fuhr und Henry und ich ins Männynlatva gingen und Sonntagsschnitzel so groß wie Elefantenohren aßen, ein richtiges Männeressen. Und es entging mir nicht: Obwohl wir uns seit Jahren nicht mehr gesehen hatten, obwohl wir lediglich Weihnachtsgrüße ausgetauscht hatten, fanden Henry und ich sofort zueinander. Jetzt, nachdem genügend Jahre verstrichen waren, konnten wir plötzlich miteinander reden.
    Henry meinte, als er die Nachricht von ihrem Tod erhalten habe, sei in ihm auf der Stelle der Entschluss gereift, zur Beerdigung zu fahren, er habe ein Telegramm von der Witwe eines verstorbenen Kollegen aus seiner Zeit bei Familie Gelbkrantz bekommen. Die Frau war eine gute Freundin Leenis gewesen und hatte versucht, Henry anzurufen, ihn jedoch nicht erreicht und sich deshalb auf anderem Wege gemeldet. Hier hätte Henry mir durchaus vorwerfen können, dass ich ihn nicht benachrichtigt hatte, aber das tat er nicht. Ich beeilte mich dennoch, ihm wahrheitsgemäß zu versichern, dass ich mehrmals erfolglos versucht hatte, ihn telefonisch zu erreichen. Henry nickte und erwiderte, Maj-Britt und er seien momentan dabei, ihr Sommerhaus in den Schären nördlich von Stockholm zu renovieren, und sie verbrächten viel Zeit dort draußen. Außerdem meinte er, dass er in Erwägung gezogen habe, sich bei mir zu erkundigen, ob es Platz für einen weiteren Sargträger gebe, aber dann habe er erkannt, dass er die Familie von Leenis Mann überhaupt nicht kannte und dass sehr viele Familien ein solches Ansinnen dankend ablehnen würden. »Außerdem wusste ich nicht, was du selbst dazu sagen würdest, bei dir weiß man ja nie«, fügte er hinzu. »Was zum Teufel soll das denn jetzt wieder heißen«, entgegnete ich, »behauptest du etwa, dass ich konservativ bin?« »Nein«, antwortete Henry, »aber ziemlich unberechenbar.«
    Henrys Haare waren inzwischen graumeliert, und er war wesentlich schlanker als früher. Er erzählte, Maj-Britt sei eine frisch bekehrte Bewegungsenthusiastin, und Joggingrunden und Morgengymnastik täten ihm genauso gut wie ihr. »Und dann ist da ja auch noch die Arbeit am Sommerhaus«, fügte er hinzu, »ich glaube, so gut war ich nicht mehr in Form, seit ich aufgehört habe, Fußball zu spielen.« Als ich ihn so erzählen hörte, entging mir nicht, wie ausgeglichen und wie zufrieden er damit war, einen Wechsel in ein anderes Land gewagt zu haben. Natürlich trauerte er um Leeni, das sah man ihm an. Aber sie gehörte zu einem früheren Lebensabschnitt, und wenn ich jetzt an unsere letzten Jahre in Tallinge zurückdachte, erkannte ich, dass Henrys und Leenis gemeinsames Leben schon viel früher zu Ende gewesen sein musste, als ich begriffen hatte. Die letzten Jahre mit all den Reisen und Tagungen waren ein Versuch gewesen, etwas zu übertünchen, was so groß geworden war, dass es sich einfach nicht mehr unter den Teppich kehren ließ.
    Kurz bevor sie zumachten, bestellten Henry und ich unseren fünften Whisky – wir waren gleich nach dem Essen von Wein zu härteren Tropfen übergegangen –, und anschließend murmelte Henry einige verlegene Worte über meine »frühesten Lebensumstände«, die nicht »die bestmöglichen« gewesen seien und deshalb »ihren Schatten über viele spätere Beschlüsse geworfen« hätten, er hoffe aber, dass ich dennoch nicht allzu unzufrieden mit meiner Kindheit gewesen sei. Wir waren schon betrunken,

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