Geh nicht einsam in die Nacht
wurde. Sie hatten einen gemeinsamen Auftrag, ein neues Handelsabkommen sollte geschlossen werden, eine finnische Delegation hockte in Moskau, die Verhandlungen zogen sich in die Länge. Im Hotel saßen die akkreditierten Journalisten Däumchen drehend herum, und eines Abends tranken Manner und Koskelo-Kajander gemeinsam, obwohl sie sich verabscheuten.
Der Abend endete mit dem Versuch der beiden, sich gegenseitig ihre frühesten Kindheitserinnerungen zu erzählen. Der Wodka machte Koskelo-Kajander sentimental, und er vertraute Manner seine kostbarste Erinnerung an, die früheste, die er an seinen Vater hatte, der im Fortsetzungskrieg als Kommunist hingerichtet worden war: Er erzählte von einem Sommertag auf einem Sandstrand, an dem er ein verdorbenes Eis gegessen hatte, so dass ihm schlecht geworden war und er sich am Ufersaum übergeben hatte, und dass sein Vater ihn hinterher auf seinen Schultern zu einer kleinen Schrebergartenlaube getragen hatte, wo er sich ausruhen durfte, während die Eltern schwimmen gingen. Koskelo-Kajander erwartete, im Gegenzug eine ähnliche Erinnerung Manners zu hören. Aber es kam keine Geschichte. Stattdessen versank Manner, der normalerweise viel vertrug, in einen deliriumartigen Zustand. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, sein Blick ging ins Leere, auf seine Stirn trat Schweiß, und er murmelte, er hatte ein Messer, er hatte immer ein Messer. Danach sagte Manner nichts mehr, saß nur auf seinem Stuhl und schwieg, bis er ins Badezimmer wankte, die Tür schloss und Koskelo-Kajander hörte, wie er sich übergab.
* * *
Ich sank in diesen Jahren immer tiefer. Im letzten Winter war das Geld aus dem Verkauf von Leenis Wohnung fast aufgebraucht, und ich bekam kaum noch Aufträge: Ich hatte zu viele Versprechen gebrochen.
Im Privatleben erreichte mein moralisches Empfinden neue Tiefpunkte. Eines Nachts befand ich mich im Botta, wo ich mehrmals mit einem schwarzhaarigen Mädchen tanzte. Als wir keine Lust mehr hatten zu tanzen, gingen wir ins Manala, tranken, unterhielten uns und küssten uns schließlich. Ich sah, dass sie sehr jung war, mindestens zehn Jahre jünger als ich, vielleicht sogar noch jünger. Ich sah auch, dass es ihr nicht gut ging, denn sie war fast krankhaft mager, sprach sehr herablassend über sich selbst und hatte sich geweigert, mir ihren Namen zu nennen, ich musste sie regelrecht beknien, um wenigstens ihren Vornamen zu erfahren. Sie war ein junger Mensch, der sich in sich selbst und der Welt verirrt hatte, aber ich setzte mich trotzdem in dasselbe Taxi wie sie, und wir fuhren zu ihr, sie meinte, sie habe Wein und Whisky im Schrank, und ich weiß, dass ich alles getan hätte, was sie mir erlaubt hätte. Wir stiegen vor einem Hochhaus im Stadtteil Alphyddan aus dem Wagen und nahmen den Aufzug in den siebten Stock. Als wir ihre Wohnung betraten, warf ich zufällig einen Blick auf den Briefeinwurf.
Manner.
Ich begriff sofort. Fast zehn Jahre waren vergangen, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte, aber ich hatte Jouni Manners älteste Tochter nicht mehr wiedererkannt, obwohl sie mir ihren richtigen Vornamen genannt hatte, Suvi. Und Suvi hatte mich auch nicht erkannt, sie hatte nicht reagiert, obwohl ich ihr Vor- und Nachnamen anvertraut hatte.
»Mir fällt gerade ein, dass ich morgen früh eine Besprechung habe«, murmelte ich verlegen. »Ich kann noch kurz auf ein Glas hereinkommen, aber dann muss ich fahren.«
Darauf fiel sie nicht herein, denn sie hatte meinen Blick auf dem Briefeinwurf verharren sehen.
»Du kennst meinen Vater, was?«
Ich nickte, sagte Gute Nacht und ging.
Zwei Tage vergingen, dann rief Manner mich an. Er war genau wie Eva Mansnerus tief enttäuscht über meinen Lebenswandel, und wir hatten uns seit fast einem Jahr nicht mehr gesprochen. Außerdem war Manner inzwischen wieder ein wichtiger Mann im Staat, er umgab sich mit Sekretären und Ratgebern unterschiedlicher Art, und es war viel schwieriger geworden, an ihn heranzukommen.
»Ich weiß, wo du vorletzte Nacht warst«, sagte Manner. »Versuch ja nicht, so zu tun, als wüsstest du nicht, wovon ich rede.«
»Ich schwöre dir, ich habe sie nicht wiedererkannt«, erwiderte ich.
»Ich glaube dir«, sagte Manner. Er seufzte schwer: »Es geht ihr nicht gut, aber das hast du ja gesehen.«
»Was ist mit ihr?«
»Die Psyche. Unter anderem Anorexie. Fallst du weißt …?«
»Ja, ich weiß, was das ist«, sagte ich.
»Wenn du Kinder bekommst, Frank«, sagte Manner ernst, »lass sie nie
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