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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Westoe
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Toten. Vielleicht auch irgendeine Geschichte, die Jouni Manner vor langer Zeit erzählt hatte, eine Geschichte, die in meinem Unterbewusstsein lag und nun an die Oberfläche stieg und eine neue Bedeutung bekam. Der Name der Insel war es jedenfalls nicht, er tauchte als Möglichkeit erst mitten in der Nacht auf, als ich schlaflos durch die Wohnung tigerte und immer neue Tassen Tee kochte und alle Fragen und Theorien notierte, die mein fiebriges Gehirn plötzlich in Massen produzierte.
    Ich widerstand der Versuchung, Manner zu schreiben, bis zum nächsten Morgen. Da hatte ich den frühen Morgen der Inseltheorie gewidmet, die mir schlagartig in den Sinn gekommen war: Mir war etwas eingefallen, was Manner einmal über die Schmuggelrouten in den Sechzigern gesagt hatte. Ich hatte über Google eine Karte von Gotland gefunden. Andeutungen zu einer Insel tauchten an mehreren Stellen in Adrianas letzten Büchern auf, ich hatte mich nur von der Fixierung auf den Tag des Jüngsten Gerichts in ihren Aufzeichnungen irreleiten lassen.
    In gewisser Weise war es gut, dass ich den Abend und die Nacht wartete, bis ich Manner zu erreichen versuchte. Denn ich war nicht nur aufgeregt und erwartungsvoll wie ein Alchemist, der glaubt, die Formel gefunden zu haben, oder ein Hacker, der die Codes des Pentagon geknackt hat, sondern auch unglaublich wütend auf ihn. Wenn es so war, wie ich glaubte, und mittlerweile war ich mir sicher, hatte Manner der Welt mehr als vierzig und mir selbst mehr als zwanzig Jahre lang etwas vorgegaukelt. Außerdem hatte er mich so gründlich hinters Licht geführt, wie mir das schon einmal passiert war.
    Im Morgengrauen – der anbrechende Tag war locker bewölkt und das Radio versprach für den Nachmittag Sonne und Wärme – erkannte ich dennoch zwei wichtige Wahrheiten. Erstens, dass die Sache selbst wichtiger war als meine Beziehung zu Manner. Zweitens, dass ich weder schlafen noch essen können würde, bis ich Gewissheit hatte.
    Meine erste Mail an Manner schickte ich um kurz nach sieben. Sie bestand aus einem einzigen Wort: Gotland? Und darunter: Frank
    Ich musste lange, zu lange warten. Und hielt es natürlich nicht aus. Nach zwei Stunden unruhigen Halbschlafs rief ich ihn schon gegen zehn das erste Mal auf dem Handy an. Ich hielt mich bereit, auf seine Mailbox zu sprechen, wurde aber nie mit ihr verbunden. Ich wählte seine Festnetznummer, vergeblich. Ich schickte ihm eine SMS mit derselben kurzen Frage wie in der Mail. Ich ging mindestens alle fünfzehn Minuten in meine Mails, aber es kam am ganzen Tag nur eine einzige Nachricht: »She will scream and cry of joy!«, eine Penisverlängerungs-Spam aus den USA. Ich rief noch einmal an, ich rief immer wieder beide Nummern an. Ich schickte eine neue Mail mit einem der unzähligen Gedanken, für die ich eine Bestätigung suchte: »Adriana wusste Bescheid!«
    Gegen fünf Uhr nachmittags war ich so ungeduldig und vom Mangel an Nahrung und Schlaf so überdreht, dass ich mich in meinen alten Golf setzte und durch die ganze Stadt zu Manners Wohnung fuhr. In den Fenstern zur Straßenseite hin waren die Vorhänge zugezogen. Ich klingelte mehrmals und lange. Keine Reaktion. Ich blieb so lange stehen und drückte so oft auf die Klingel, dass in Manners Nachbarwohnung auf einmal ein Vorhang flatterte. Ich erkannte, dass man in dieser Wohngegend schnell zum Hörer griff, um die Polizei zu rufen, und ging um den Häuserblock herum, um die Fenster auf der Rückseite zu überprüfen. Aufgezogene Vorhänge, aber kein Lebenszeichen. Ich blieb lange stehen, wählte beide Telefonnummern Manners und starrte die schwarzen Fensterscheiben in der Hoffnung an, dass etwas passieren würde.
    Als ich nach Hause kam, war es fast acht. Ich rief meine Mails ab: nichts. Ich holte ein Fertiggericht aus dem Kühlschrank und wärmte es auf. Ich aß mechanisch und ohne Appetit, musste mich zum Essen zwingen. Ich versuchte, an einer Übersetzung zu arbeiten, ein Programmheft für ein Theater, aber es ging nicht: Mein Gehirn produzierte unablässig neue Theorien und Möglichkeiten, die einfach schriftlich festgehalten werden mussten.
    Um halb elf, als ich die Hoffnung bereits aufgegeben hatte und mich das Gefühl umtrieb, dass ich vor Frustration noch wahnsinnig werden würde, klingelte mein Handy. Hinterher sollte mir klar werden, dass Manner immer noch nicht wusste, was er tun sollte, und Angst davor hatte, wie das alles enden würde. Seine SMS war eine Schutzmaßnahme, in seinen Augen war sie

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