Geh nicht einsam in die Nacht
schoss durch den Kopf, dass unser Gespräch so intensiv gewesen war, dass ich – der ich immer Leute mit großen Ohren befürchtete – nicht einmal zur Seite geschielt hatte. Eva schüttelte entschlossen den Kopf, sie schüttelte den Ernst gleichsam ab. Ich begegnete dem Blick unseres Kellners und bat um die Rechnung.
»Ihr Männer seid solche Nostalgiker«, ergriff Eva erneut das Wort. »Nicht alle, aber viele von euch. Wenn man euch manchmal zuhört … kommt es einem vor, als gäbe es zwischen eurer Jugend und eurem Tod nichts als diese verdammte Nostalgie.«
»Willst du damit etwa behaupten, dass Frauen nie nostalgisch werden?«, gab ich zurück und versuchte, zu dem lockeren Ton am Anfang des Abends zurückzufinden.
»Nicht wie ihr«, antwortete Eva. »Ich persönlich finde, dass man damit nur Zeit und Leben verschwendet. Du hast doch sicher mal daran gedacht, dass wir zwei dem Tod vermutlich bereits näher sind als unserer Geburt?«
»Danke für die Information!«, sagte ich. »In der Vorweihnachtszeit ist es nie verkehrt, daran zu denken.«
Eva schenkte meiner bissigen Bemerkung keine Beachtung und fuhr fort: »Ich denke oft an einen Song, den Addi sehr mochte. Die Platte gehörte mir, und wenn Addi in den letzten Jahren nach Hause kam, wollte sie immer dieses eine Lied darüber hören, dass es in unseren Erinnerungen sowohl Diamanten als auch Rost gibt. Und dann stellt sich doch die Frage, wovon man mehr findet. Für mich ist es Rost.«
Die Rechnung wurde gebracht, und ich machte einen Ansatz, sie an mich zu nehmen, aber Eva lehnte sich vor und legte wieder ihre Hand auf meine.
»Lass mich.«
»Warum denn?«
»Ich weiß doch, dass … ach was, als Dankeschön. Für das mit Nadia.«
Ich zuckte mit den Schultern und schob ihr das Tellerchen mit der Rechnung zu.
4
NUN HABE ICH den Punkt erreicht, an dem die eine Erzählung endet und eine andere beginnt, aber der Auftakt der neuen Erzählung ist identisch mit dem Abschluss der alten – so verhält es sich oft, es gibt fast immer eine Überschneidung –, und deshalb möchte ich euch bitten, mich auf einer weiteren Reise zu begleiten. Oder eigentlich auf zwei.
Ich werde nie den Augenblick vergessen, in dem mir ein Licht aufging, nennt es eine Ahnung oder Erkenntnis oder Offenbarung, was immer ihr wollt. Obwohl seither fast ein Jahr vergangen ist, hält sich dieser Moment immer noch auf meiner Netzhaut, ich trage ihn in meinem Körper, ich sehe und höre und rieche nach wie vor alles, was mich umgab, als es passierte, es kommt mir vor, als wäre es erst gestern passiert, obwohl seither so viel geschehen ist.
Es war ein früher Abend, und ich hatte ein oder zwei Stunden in Adriana Mansnerus’ Tagebüchern gelesen. Ich glaube allerdings nicht, dass dies entscheidend war, ich hätte es auch so erkannt, es hätte nur ein bisschen länger gedauert. Ein anderer Zufall wollte es, dass ich gerade das erste Lebenszeichen von Jouni Manner seit sehr langer Zeit bekommen hatte: am vorherigen Morgen, eine lange und verbitterte, aber auch scharfsichtige E-Mail, in der er sich über die Verflachung der Politik und des gesamten gesellschaftlichen Lebens ausließ. Aber ich glaube ebenso wenig, dass dies entscheidend war, das Tor hätte sich in meinem Kopf bestimmt auch so geöffnet. Darüber hinaus spielte es wohl auch keine Rolle, dass ich mich tagsüber mit Eva Mansnerus auf eine Tasse Kaffee und ein Stück Apfelkuchen getroffen hatte, bevor Dauerregen auf Fågelsången und die ganze Innenstadt fiel und ich in meine ärmliche Bleibe zurückfuhr.
Ich glaube schlichtweg, dass es passierte, weil es August war und regnete.
Die Regenfälle im August habe ich immer geliebt, ich warte jedes Jahr auf sie. Sie sind so reinigend und klar, sie versetzen mich an Abende in meiner Jugend zurück, an denen ich gerade erst von Svartviken nach Tallinge zurückgekehrt war und mich danach sehnte, Pete und Eva und die ganze Rosari-Gang wiederzusehen, die Vegetation war immer so dicht und dunkel und tief, und auf den Mittelstreifen der Autobahnen blühten die Rosen, und der Blütenduft vermischte sich mit dem beißenden Geruch von Benzin, und in Tallinge und Mattisbacka und anderen Vororten rund um die Stadt streckten sich die flachen Schulen und öffneten ihre starren Mäuler und lockerten sie in Erwartung der Schüler, die sie bald verschlucken durften. Aber im Grunde versetzen diese Regenfälle mich noch viel weiter zurück, zu einer Art Urzustand vor den Worten, zu einem
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