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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Westoe
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Gefühl der Geborgenheit und Souveränität, aber auch zu einer beginnenden Unruhe, einem Augenblick, in dem ich ahne, bis jetzt gibt es nur mich und die Stille und den Regen, aber schon bald werde ich zu einem Menschen unter anderen Menschen wachsen müssen.
    Aber es ist nicht nur so, dass ich es liebe, wenn es regnet. Ich denke auch besser, wenn ich allein bin und den Regen auf die Bäume prasseln und auf die Hausdächer trommeln höre. Und genau das passierte. Es begann zu regnen, und dann sah ich es endlich.
    Diesmal gab es einen konkreten – wenn auch recht seltsamen – Grund dafür, dass ich in Adrianas Tagebüchern las. Sie enthielten eine ganze Reihe von Höllenvisionen, besonders die letzten, und ich hatte vor Kurzem eine Dokumentation über 9/11 gesehen, einen Film, in dem mich gewisse Szenen an Adrianas Bildsprache erinnert hatten. Es handelte sich um Amateurfilme der Tragödie, gedreht von der anderen Seite des Flusses, von New Jersey aus. In einem dieser Filme sah man eine ungeheuer hohe, aber zugleich eigentümlich schmale Spirale aus pechschwarzem Rauch – die Reste eines Turms –, die sich irgendwie um sich selbst drehte und kleinere Spiralen aussandte, kleine Stängel, dabei gleichzeitig aufsteigend und sich in eine Richtung bewegend, die meiner Einschätzung nach Norden sein musste. »Die Bohnenranke des Todes« war ein apokalyptisches Bild, das an mehreren Stellen in Adrianas Tagebüchern auftauchte, und mit etwas Fantasie sah die grauenvolle Rauchwolke tatsächlich aus wie eine gigantische schwarze Bohnenranke.
    Über diese Elemente der Tagebücher hatte ich mit Eva nie gesprochen, Eva wollte nicht, aber ich nahm an, dass diese Schreckensvisionen ihren Ursprung in Filmausschnitten hatten, die Adriana gesehen hatte. Wahrscheinlich handelte es sich um »informative« Filme über Atom- und Wasserstoffbombenexplosionen, die Trinity der Amerikaner, die Monster der Russen, die Franzosen auf dem Mururoa-Atoll, vieles war denkbar. Diese Explosionen ließen ja eine Feuer- und Staubwolke in verschiedenen Formen und Farben entstehen, schreckliche, abstrakte Abbildungen der menschlichen Fähigkeit zu besinnungsloser Gewalt, und diese Bilder konnten von einer verängstigten Fantasie in alles Mögliche verwandelt werden. Über diese Bilder des Grauens, diese Sprache des Entsetzens grübelte ich an jenem Sonntagabend nach, konnte aber auch nicht der Frage ausweichen, die Adrianas Notizen jedes Mal in mir auslösten: Wie viel war seelische Krankheit, wie viel war unverstandene und nie genutzte Begabung?
    Diese Grübeleien waren jedoch nicht alles. Mich beschäftigte noch etwas anderes, seit ich ihre Tagebücher zwölf Jahre zuvor bekommen hatte: ein Gefühl, dass es in ihnen Rätsel gab, die ich hätte lösen können müssen, die Ahnung von etwas, was in diesen Heften auf mich wartete, mich aber narrte und so dafür sorgte, dass ich einer der Menschen blieb, mit »einer Menge Wege, nicht zu wissen, was sie schon wissen«, um in Adrianas Worten zu sprechen.
    Und dann war es plötzlich, als würde jemand einen Schlüssel in ein Schloss stecken. Oder vielmehr: als tippte jemand einen Zahlencode ein. Und dieses Tor – denn es ist ein riesiges Tor, keine gewöhnliche Tür –, das sich öffnet, geht nicht nur einen Spaltbreit oder ganz normal, ruhig und gesittet auf, sondern fällt so plötzlich und sperrangelweit auf, dass man in den schwarzen Raum stolpert und es einen schwindelt und man für einige Augenblicke überzeugt ist, dass man bereits ohnmächtig geworden ist. Ich weiß nicht, ob ihr dieses Gefühl einmal erlebt habt, wenn etwas, was man für so unmöglich hielt, dass man es sich nie auch nur vorgestellt hat, plötzlich nicht nur möglich, sondern aller Voraussicht nach wahr ist. Ich erlebte es damals, an meinem Küchenfenster stehend, Adrianas Tagebücher neben mir auf dem Tisch. Das Lüftungsfenster stand offen, der Regen prasselte auf die Laubbäume im Hof und trommelte auf das Blechdach des Abfallraums, die Welt war dunstgrau, tiefgrün und backsteinrot, kein Mensch war zu sehen, bald würde es dämmern, ein schwacher Duft von Rosen, Gras und Humus strömte zum Fenster herein, irgendwo in der Ferne gab ein Motorradfahrer trotz der Nässe Gas, der kräftige Motor heulte auf.
    Und alles passte zusammen, und ich wusste es.
    Mir ist bis heute nicht klar, was der auslösende Faktor war. Vielleicht die zahlreichen Verweise auf Wasser in Adrianas späten Notizbüchern oder ein liebevoller Satz über die

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