Geh nicht einsam in die Nacht
weniger gravierend und verpflichtend als eine Mail.
Sie bestand aus nur fünf Worten: Gib mir etwas Zeit. Jouni.
* * *
Die erste Reise machte ich in einer Novemberwoche, in der laut Wetterbericht dichter Nebel über der ganzen Ostsee hing. Da hatten Manner und ich kaum mehr als das Allernötigste besprochen. Aber ich hatte grünes Licht bekommen, das war entscheidend.
Im Flugzeug nach Stockholm las ich in den Boulevardzeitungen Artikel über den dreiundzwanzigjährigen Pokerprofi Ilmo Everi, der bei einem Turnier in den USA einen hohen Gewinn eingestrichen hatte. Mir fiel ein, wie Pete sich einmal darüber beklagt hatte, dass sein mittlerer Sohn Ilmo gegen den ausdrücklichen Willen seines Vaters vom Glücksspiel lebte. Als ich in Stockholm das Terminal wechselte, rief ich Pete an. Er reagierte wie erwartet: »Das ist doch verdammt nochmal kein Beruf!« »Achthunderttausend Dollar sind viel Geld«, erwiderte ich. »Dann ist es das eben«, sagte Pete säuerlich. »Was machst du in Schweden?« »Arbeiten«, antwortete ich, »bis bald!«
Ich war selten in Schweden, aber wenn ich dort war, besuchte ich Henry und Maj-Britt in Norrtälje, worauf ich diesmal jedoch verzichtete. Ich war zu eifrig und zu nervös, ich hatte Angst, mich zu verplappern.
Ich war noch nie auf Gotland gewesen und entschied mich für einen Flug und gegen die Fähre von Nynäshamn. Die Lösung war viel teurer, aber ich hatte Angst vor den Herbststürmen auf offener See. Beim Landeanflug auf Visby bereute ich meine Entscheidung drei Mal. Der Nebel hing so dicht, dass die Landung erst beim dritten Versuch gelang.
Die Tage waren kurz, und ich wollte nicht im Dunkeln fahren, deshalb hatte ich ein Zimmer in einem Hotel gebucht. Ich holte den Mietwagen ab, parkte ihn in der Nähe des Hotels und machte einen Spaziergang. Als ich losging, war ich so angespannt, dass mir fast schlecht war, aber der Nebel und Visbys Altertümlichkeit wirkten beruhigend. Es war Nachmittag, und es ruhte etwas Zeitloses über der kleinen Stadt, eine unwirkliche Stimmung, die von der Stille und Feuchtigkeit und dem undurchdringlichen Dunst noch verstärkt wurde. Ich ging über nasse Kopfsteinpflasterstraßen und an uralten Kirchen- und Klosterruinen vorbei, und jeder Mensch, der aus dem Nebel auftauchte, erschien mir wie ein Geist. Ich kam an einer Privatgalerie vorbei, einem kleinen Steinhaus, in dem in einem Fenster kleine Ölgemälde hingen, die alte Jazzmusiker porträtierten – ich erkannte Stan Getz und Chet Baker. Ich klopfte an das Fenster, aber es zeigte sich niemand. Ich ging eine steile und lange Steintreppe hinauf, die neben einer mächtigen Kirche begann, stand anschließend auf der Anhöhe, starrte in den Nebel hinaus, versuchte herauszufinden, wo das Meer lag, und musste mir eingestehen, dass ich es nicht wusste. Aber der Spaziergang hatte mir mein Gefühl für Proportionen wiedergegeben: Wir Menschen kamen und gingen, diese steinernen Städte dagegen blieben, und nach diesem Maßstab waren ein paar Jahrzehnte weniger als nichts.
Am Vormittag setzte ich mich in den gemieteten Corolla und fuhr quer über die Insel Richtung Roma und weiter nach Osten. Als ich mich der Ostküste näherte, verfuhr ich mich und landete in einer Sackgasse, einem kleinen Örtchen am Meer, in dem die Straße endete. Ich korrigierte meinen Fehler, aber als ich mich dem Ziel näherte, bekam ich neue Probleme: Ein kompliziertes Netz aus kleinen Landstraßen verband die zahlreichen Dörfer im Südosten, und ich verfuhr mich erneut.
Am Ende kam ich dann doch aus der Richtung in das Dorf När, die Manner mir vorgegeben hatte, und folgte seiner Wegbeschreibung. Es war fast zwei, der Nebel war etwas dünner geworden, und als ich ein paar Kilometer gefahren war, sah ich das Haus. Es entsprach exakt seiner Beschreibung: klein, grauweiße Wände, von denen der Putz abblätterte, ein Satteldach, auf dem der eine oder andere Dachziegel fehlte, eine rotbraune Haustür und rotbraune Fensterrahmen. Vor dem Haus stand rechterhand ein nackter und struppiger Laubbaum, wie Manner ihn beschrieben hatte. Der kleine Garten war im Frühjahr und Sommer sicher idyllisch, momentan jedoch wie der Rest der Insel graugrün, schmutzig gelb und braun. Aus dem Schornstein stieg Rauch auf, und schon von weitem stieg mir der Geruch von Brennholz in die Nase. Er versetzte mich in die Vergangenheit zurück, denn es roch genau wie in Svartviken, wenn es regnete und alle Sommerurlauber gleichzeitig ihre Saunen
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