Geh nicht einsam in die Nacht
armen Schlucker zu verleiten, zu viel für ihn zu bezahlen. »Der Verstärker da ist eine Fälschung«, sagte Eskelinen hochnäsig, »noch dazu eine schlechte. Wo hast du den gekauft?« »Bei S-Stenman«, antwortete Ariel und ergänzte dümmlich: »Ich verstehe nichts von Technik.« »Bei Stenman!«, jubelte Eskelinen, während Santtu Wuori und Tapsa im Hintergrund wieherten. »Dieser geldgierige Schurke! Der hat die Buchstaben doch mit Sicherheit selbst eingeschweißt. Morris ist doch verdammt noch mal eine Automarke!«
Einer der Anwesenden war auch damals schon eine mythische Gestalt: der Produzent Untamo Tuomi. Tuomi war ein Brille tragender Mann Ende fünfzig mit strengen Augen und einer schmucken Fliege, die unter seinem anormal großen Adamsapfel wippte. Er war der ältere Bruder des allseits verehrten Tangosängers Kullervo Tuomi und ein erbitterter Feind der damaligen Jugendkultur. Seit den großen Erfolgen von Cliff Richards und The Shadows Anfang des Jahrzehnts hatte Untamo der Wochenzeitung Suomen Kuvalehti wütende Artikel über die minderwertige »Stahldrahtmusik« und ihre Gefahren geschickt, und wenn Sonovox ihn zwang, ein solches »Stahldrahtensemble« zu produzieren, benahm er sich, als hätte er gerade ein Kilo Zitronen verdrückt. Seine künstlerische Seite – die er hatte, denn er hatte zu mehreren berühmten Schlagern der Nachkriegszeit rührselige Texte geschrieben und trank Abend für Abend kübelweise Branntwein, was er kaschierte, indem er eine halbe Flasche Aqua Vera über sich ausgoss und einen großen Schluck Mundwasser nahm, bevor er vormittags zur Arbeit ging – verriet er nur durch seine Haare, die im Nacken lang und fettig waren.
Untamo Tuomi war eine respekteinflößende Persönlichkeit, sogar der normalerweise so vorlaute Stenka Waenerberg gab sich demütig und zurückhaltend, wenn er ihn ansprach. Jouni brauchte nicht lange, um zu merken, dass ausgerechnet der Produzent für Adriana der größte Stein des Anstoßes war. Tuomi besaß ein absolutes Gehör und stürzte sich auf jede kleinste Unsauberkeit in Gesang oder Begleitung. Leider führte Adrianas Nervosität dazu, dass sie in den ersten Stunden schlecht sang. Tuomi meckerte pausenlos an ihr herum. Isin tyttö , Papas Mädchen, gehörte noch zu den freundlicheren Bezeichnungen: Offenbar wusste er, dass Adriana aus einer vermögenden Familie des Bürgertums stammte. Adriana reagierte panisch, ihr Gesicht wurde immer blasser, und sie verhielt sich immer flatterhafter und unsicherer, und während einer Zigarettenpause flüsterte sie Jouni zu: »Er ist widerlich. Außerdem riecht er genauso wie mein Vater.«
Als sie nach dem Mittagessen die Arbeit an der finnischen Version von The Sound Of Silence wieder aufnahmen – Geh nicht einsam in die Nacht hatten sie nicht einmal probehalber gesungen –, phrasierte Adriana immer noch falsch. Tuomi fragte sie, ob sie wisse, was ein Taktstrich sei, und Adriana stürzte heulend aus dem Studio. Jouni lief ihr ins Treppenhaus hinterher. Eine Etage tiefer lagen der Hallraum, ein Lagerraum und eine Toilette, aus der Geräusche an sein Ohr drangen: Jemand übergab sich. Er lief die Treppe hinunter und sagte durch die Toilettentür: »Bitte Addi, hör nicht auf ihn, du weißt, dass du singen kannst.« Das Würgen hörte auf, er hörte sie spucken und dann, dass sie aufstand und sich den Mund ausspülte. »Schickst du bitte Stenka zu mir«, sagte Adriana mit kraftloser und verschüchterter Stimme, »ich muss mit ihm sprechen.«
Stenka und Adriana standen lange auf der Treppe und unterhielten sich. Jouni und Ariel öffneten die Studiotür einen Spaltbreit und hörten ihre Stimmen gegen die Betonwände prallen, aber das kräftige Echo führte dazu, dass ihre Worte unverständlich blieben. Untamo Tuomi hatte die Arme vor der Brust verschränkt und wartete, die Musiker saßen auf ihren Plätzen. Dann ging die Tür auf, und Adriana kam herein, gefolgt von Stenka, der sich ruhig eine weitere Zigarette anzündete, mit Sicherheit schon seine zwanzigste. Adriana ging in die Gesangbox und zu ihrem Mikrofon, als wäre nichts passiert, und von da an sang sie immer besser, je länger der Nachmittag fortschritt. Ein einziges Mal verpasste sie einen Einsatz, was ihr eine Schelte Untamo Tuomis eintrug, und Jouni sah, wie sich Adriana auf die Unterlippe biss und erneut flattrig und fahrig wurde: Die Unruhe war in ihrem Inneren wie ein dunkler Schmetterling, ein Trauermantel, der nicht hinausfand. Dann ging
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