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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Westoe
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einer der Aufnahmen – es waren bei weitem nicht so viele nötig wie beim ersten Lied – passierte etwas mit Jouni: Er wurde von der Schönheit überwältigt.
    Später sollte er erkennen, dass das Erlebnis sicher lange im Verborgenen gelegen und auf seinen Einsatz gewartet hatte, dass er es in manchen Augenblicken gespürt hatte und es in seinem Inneren lag und ihn wie ein ungeduldiger Fötus trat: An einem Frühlingstag, an dem Adriana, Ariel und er in der Skeppsredaregatan geprobt hatten und ein dünner Sonnenstrahl den Weg durch das schmutzige Kellerfenster gefunden hatte; an einem Dezemberabend, als sie von ihrem Probenraum durch einen wirbelnden Schneesturm zur Expressobar gegangen waren; wenn er in einem der hohen und stillen Räume der Universitätsbibliothek gelernt und gefühlt hatte, wie sich ihm die Rätsel der Geschichte und Politik erschlossen; die Abende, an denen er in seinem Mietzimmer bei Frau Toropainen auf dem Bett gelegen und abwechselnd aktuelle Zeitschriften und Romanklassiker gelesen und vor dem offenen Fenster den Regen herabprasseln gehört hatte; die Winternachmittage, an denen er bei Elina gesessen und Kaffee getrunken und den sogenannten Rundfunkgrafen Creutz oder Kaisu Puuska-Joki landesweit ausgestrahlte politische Vorträge und Kammerkonzerte ansagen gehört hatte, wie ihm plötzlich bewusst geworden war, dass er das alles kannte, dass er mit all diesen herrlichen Dingen vertraut war; er wusste genau, worüber die Ansager sprachen und was ihn selbst, Elina und die anderen Zuhörer erwartete.
    An diesem Maitag im Studio war Jouni nicht vollends bereit. Er sah die Bilder vor sich – Bilder von stiller Freundschaft, Bilder von wachsendem Wissen –, konnte sie jedoch nicht deuten: Er ahnte, dass es einen Zusammenhang gab, war sich aber nicht sicher. Dass die Augenblicke der Freundschaft und die Momente, in denen er Wissen aufsog, zusammenwirkten, dass sie ihm einen Blickwinkel auf das brutale Leben eröffneten, das er gelebt hatte, und Türen öffneten, die in die Welt hinaus und weiter in ihn selbst hinein führten, das alles war schwer zu begreifen, wenn man erst zwanzig Jahre alt war und vor einem Mikrofon der Marke Telefunken stand und einen Popsong aufnahm, den ein Freund geschrieben hatte. Aber später, als Jouni dies alles verstanden hatte, sollte er daran zurückdenken, wie er dort gestanden und gesungen und gefühlt hatte, dass er etwas anderes , etwas Versöhnlicheres als diesen unaufhörlichen Kampf ums Überleben und Besiegen wollte, als dieses fortwährende entweder du oder ich . Dass diese plötzliche Erfahrung von Schönheit so intensiv wurde, lag nicht nur an dem Lied, das sie in ihrer engen Box sangen, nicht nur daran, dass neben ihm Ariel stand und aussah wie ein Alien mit Kopfhörer von einem sehr mageren Planeten, nicht nur daran, dass Adriana so schön war, als sie hinter ihrem Mikrofon glasklar und wohltönend phrasierte, ohne jede Spur ihrer Niederlage am Vormittag. Nein, Jouni tastete nach der Schönheit, weil er die Gewalt und das Hässliche und die Scham so gut kannte, diese Bilder existierten weiter, auch diese Bilder waren intensiv: Singend entsann er sich des Ekels, der ihn gepackt hatte, als er mit Hurme und Suhonen Mikko Ervander zusammengeschlagen hatten, er dachte daran zurück, wie er sich vor vielen Jahren gezwungen hatte, Repe Paldanius’ bereits zerkratztes Gesicht in das gefrorene und harte Gras zu pressen, und wie schonungslos er Ariel niedergestreckt hatte, als sie sich das erste Mal begegnet waren. Und dies geschah während einer der letzten Gesangsaufnahmen des Nachmittags, als Ariels kurzes und melodisches Solo vom Band ertönte. Während des Gitarrensolos sah Jouni all die alten Bilder, gute und schlechte, und als das Solo endete und sie zum Refrain zurückkehren wollten, öffnete er die Augen, und dabei fiel sein Blick zufällig auf das kleine Fenster zum Hof, das einzige im ganzen Studio. Es war rechteckig und stand hochkant, und einige Meter vom Haus entfernt wuchs eine alte Birke, und es waren Wolken aufgezogen, und es wehte ein scharfer Wind, Regen lag in der Luft, aber es war dennoch hell, so unbarmherzig hell, wie dies nur im Mai möglich ist, und die alte Birke stand dort mit ihrem knorrigen Stamm und ihrem zarten Laub, und Jouni sah, dass ihre Krone im Wind geschüttelt wurde, und er erkannte, wie alt sie war, aber gleichzeitig auch jung, weil sie in einem weiteren Frühjahr zu neuem Leben geboren wurde, und er dankte und verfluchte

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