Geh nicht einsam in die Nacht
Ariels Lied, das all diese Gedanken und Bilder in ihm heraufbeschwor, und aus dem einen Augenwinkel sah er Adriana aus vollem Hals singen, den Mund dicht an das Mikrofon gelegt, und aus dem anderen Augenwinkel sah er Ariel beim Singen erdige Luftgitarrenakkorde schlagen, wie er es immer tat, wenn er singen musste, ohne sich begleiten zu dürfen. Das helfe ihm, im Rhythmus zu bleiben, hatte er erklärt, und inzwischen waren sie zum letzten Crescendo gekommen, und das Arrangement war unglaublich schön, fast wie von Phil Spector, obwohl Untamo Tuomi kaum wissen dürfte, wer Spector war, die Gesangsstimmen waren glaubensstark und kraftvoll, und Aslak Österholms Klavier und Ariels und Jugi Eskelinens Gitarren schufen gemeinsam einen mächtigen Klang, und Jouni schielte abwechselnd zu Ariel und Adriana hinüber und dachte, sicher, sie waren schwach, das ließ sich nicht leugnen, seine Freunde waren zerbrechlich, und jeder kleinste, kalte Windstoß traf sie bis ins Mark und ließ sie frieren, und er, Jouni, würde sich immer Sorgen darum machen, was ihnen zustoßen könnte. Aber sie waren auch so schön! Ariel war innerlich schön, und Adriana war innerlich und äußerlich schön, und Jouni wollte beide beschützen, er liebte sie, er liebte Ariel, weil er so wunderbare Lieder schrieb und Ariels Stottern immer verschwand, wenn er vergaß, Angst zu haben, und er liebte Adriana, denn ein verängstigter Schmetterling schlug gegen ihre Wände, aber wenn es darauf ankam, wie jetzt, bekam sie ihn unter Kontrolle. Und plötzlich wusste er: Alles stand am Anfang, Adriana, Ariel und er waren jung und frei, in dieser Zeit lebten sie am intensivsten, mehr als je zuvor, und vielleicht auch mehr und voller, als sie später leben würden. Sie waren nicht wie diese Birke, deren dicker, verdrehter Stamm von Flechten und Pilzen bedeckt war, sie mussten sich nicht besorgt fragen, ob sie die Kraft finden würden, noch einmal im Frühjahrskleid zu stehen, noch lange, lange nicht. Jouni sah Stenka Waenerberg im Kontrollraum stehen und sie anstarren, vor allem Adriana, und er sah Jugi Eskelinen und Aslak Österholm über das Mischpult gebeugt stehen, an dem Untamo Tuomi und Tapsa Paldanius saßen, und in diesem Moment, als sie die letzten Worte sangen – geh niemals einsam in die Nacht, geh nie, niemals einsam in die Nacht –, spürte er, dass er sie alle liebte, jede Kanaille liebte, die im Studio war, und für einige Sekunden versuchte er, Tapsa Paldanius’ Blick zu begegnen, um ihm zu zeigen, dass der Jouni, der hier sang, ein ganz anderer und viel besserer Jouni Manner war als der Junge, der seinem kleinen Bruder Repe den Arm gebrochen hatte. Aber Paldanius ging auf sein Werben nicht ein: Stattdessen hob der Tontechniker seine geballte rechte Faust zu einer triumphierenden Geste und nickte Ariel und Adriana anerkennend zu.
* * *
Für Ariel war diese letzte Stunde in den Räumen von Sonovox sicher einer der größten Momente in seinem Leben. Er befand sich in einem berühmten Tonstudio, man spielte sein Lied ein, die Aufnahme gelang vortrefflich, bekannte oder zumindest respektierte Profis wie Untamo Tuomi, Jugi Eskelinen und Aslak Österholm feierten die Musik, die er geschrieben hatte: Tuomi zwar nur indirekt, indem er von seinem Privileg, mürrisch und unfreundlich zu sein, keinen Gebrauch mehr machte, aber dennoch.
Allerdings blieb es ein kurzer Moment. Als die Musiker das Studio verlassen hatten – auch Ariel hatte seine Impala in ihren schwarzen Koffer gepackt –, kam Untamo Tuomi zu ihnen und sagte, dass er Geh nicht einsam in die Nacht am Donnerstag mit Streichern unterlegen werde. Untamo hatte das Gefühl, dass es dem Lied guttun würde, und Aslak Österholm, seine rechte Hand unter den Musikern, war der gleichen Ansicht. Jouni und Adriana sahen, dass Ariels Unterlippe sofort anfing zu zittern, er wandte sich ab, beugte sich über den Gitarrenkoffer und tat, als würde eines der Schlösser klemmen. Tuomi schien völlig ungerührt, nickte Jouni und Adriana kurz zu und begab sich zu seinem Büro in der oberen Etage, sie hörten seine schweren Schritte auf der Treppe hallen.
Ariel blickte zu Jouni und Adriana auf. Er war kreidebleich. »J-Jahrelang habe ich an diesem Lied herumgef-feilt, es darf j-jetzt nicht durch so ein v-verdammtes Gef-fiedel kaputtgemacht werden«, sagte er. Jouni glaubte, eine Träne in Ariels linkem Augenwinkel zu sehen, und wusste nicht, was er sagen sollte. Adriana hatte zwei Meter entfernt gestanden
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