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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Westoe
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mit Ihnen sprechen zu dürfen, wollte aber nicht stören. Ich habe Sie Ende des Winters angerufen. Ich bin von der Nachrichtenredaktion im Rundfunk. Keijo Kantola, erinnern Sie sich?«
    * * *
    Jouni ließ Ariel im Stich, benutzte den Rundfunkmann Kantola als Entschuldigung, um seinen Freund auf Gedeih und Verderb zu verlassen. Er spürte, dass er es einfach tun musste: Er ertrug Ariel nicht mehr, nicht an diesem Abend. Lange stand er mit Kantola zusammen und unterhielt sich mit ihm, mindestens eine Stunde, vielleicht auch länger. Sie sprachen über die neue Regierung und über die Rassenbeziehungen in den USA und die Lage in Lateinamerika, und irgendwann sah Jouni aus dem Augenwinkel, wie ein leichenblasser Ariel von der Toilette zurückkehrte, sich auf die flache Couch fallen ließ und mehr Wein einschenkte. Jouni sah seinen Freund mit einem Blick nach Gesellschaft Ausschau halten, der trübe, aber auch flackernd und furchtsam war. Er wusste, dass Ariel niemanden finden würde, nachdem er und Adriana anderweitig beschäftigt waren. Jouni war dabei, ein neues Leben zu beginnen, Ariel dagegen steckte in seinem alten fest. Er bewegte sich unter verkrachten Existenzen und wusste nicht, wie und worüber man sich in feinerer Gesellschaft unterhielt. Jouni beschloss, seinen Freund auf der Couch zu ignorieren. Er wandte den Blick ab, bevor Ariel Kantola und ihn sah, und vertiefte sich mit noch größerem Eifer in die politischen Argumentationen als zuvor.
    In den frühen Morgenstunden kam ein Moment, in dem Jouni sich nach Adriana sehnte. Sein Gespräch mit Keijo Kantola hatte er da längst beendet. Mehrmals hatte er mit einer großen und schlanken Blondine getanzt, die behauptete, eine Rolle in der Lappo-Oper zu haben. Danach hatte er sich mit Alex Karjagin auf eine lange und leidenschaftliche Diskussion über Plattenaufnahmen eingelassen, bei der Karjagin ihm großzügige Schlucke aus seiner Schnapsflasche aufdrängte. Karjagin war voll wie eine Haubitze, aber glücklich, denn zehn Stunden zuvor hatte er bei Hehler Stenman seine Gitarre zurückgekauft.
    Plötzlich war die große Wohnung fast leer. Draußen wich das Zwielicht nach und nach der Frühlingsnacht. Jouni stand lange an einem offenen Fenster und dachte, dass sich in den südlichen Stadtteilen sogar die Luft anders anfühlte, dass sie nicht so stickig und dunkel und vermischt mit Schornsteinrauch und den Gerüchen von Wurst und geröstetem Kaffee und Ölresten und Bier und Pisse war wie an den steilen Anstiegen Berghälls, nein, hier war die Luft durchsichtig und klar, so klar, dass sie beinahe schimmerte, sie vertraute einem etwas über das offene Meer und die Möglichkeit an, zu wachsen und fortzugehen, sie war dem Horizont und den Weiten zugewandt. Adriana. Das war die Luft, die sie atmete, das war die Luft, die sie ihr Leben lang eingesogen hatte, trotzdem wirkte sie nicht glücklich. Jedenfalls nicht ganz und gar. Manchmal, wie am gestrigen Tag, wirkte sie alles andere als glücklich. Jouni beschloss nachzusehen, ob sie noch da war. Denn jetzt wusste er, was er von ihr wollte. Er wollte ihr sagen, dass er sie gern hatte, sehr gern, und es ihm egal war, dass sie aus dem verdammten Bürgertum stammte und Schwedisch sprach, er mochte sie trotzdem, und er wollte ihr auch sagen, dass sie sich wegen ihrer Niederlage im Studio nicht grämen sollte, Untamo Tuomi hatte ganze Generationen von Schlagersängern zu Tode erschreckt, und selbst der Beste konnte einmal einen schlechten Tag haben. All das wollte Jouni Adriana sagen und ging durch die Wohnung. Mittlerweile wurde es rasch heller, es schien ein stiller, bewölkter Tag zu werden. Es waren nur noch wenige Partygäste übrig. Keijo Kantola war gegangen, seine Tanzpartnerin war gegangen, Alex Karjagin war gegangen, die Musiker von Morning Crowd und den Namedroppers waren gegangen, die Politiker, Geschäftsleute, Stewardessen, sie alle waren fort. Ariel lag auf der Couch, auf der Jouni ihn verlassen hatte, er war eingenickt und schlief mit offenem Mund, seine Lippen waren aufgesprungen und vom Rotwein schwarz. Einige Jazzbohemiens waren noch da, spielten halblaut Platten und stritten sich mit heiseren Stimmen über Musik, aber Ariel wachte nicht auf. Jouni öffnete die Tür zu einem angrenzenden Raum. Einige Männer und Frauen saßen in einer kleinen Traube auf dem Fußboden und unterhielten sich leise. Jouni erkannte die Männer, sie waren junge, umworbene Dichter, aber er hatte ihre Namen vergessen. Einer der

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