Geh nicht einsam in die Nacht
hatte sich wenig verändert. In den Jugendzentren ernteten sie Applaus, und in einigen der kleineren Ortschaften bildeten sie sogar die Hauptattraktion des Abends. In Lappträsk vor den Toren Lovisas betrachteten sie lange das Plakat. JONI , ARIEL & ADRIANA stand ganz oben in fett gedruckten roten Großbuchstaben, und sie wussten, diese Ehre hatten sie der Tatsache zu verdanken, dass sie aus Helsingfors kamen und eine Single für eine große Plattenfirma aufgenommen hatten. In den Tanzlokalen lief es allerdings weiterhin eher schlecht. Dort sollten sie die Stimmung anheizen, und es gab immer eine sichere Karte, eine beliebte Popband wie die Islanders oder ein volkstümliches Urgestein wie Dallapé, von der das tanzhungrige und schnapsdurstige Samstagspublikum durch den restlichen Abend gelotst werden würde. Aber das Publikum wollte nicht warten: Es hatte keine Geduld mit Joni, Ariel & Adriana, weder mit ihren akustischen Gitarren noch mit ihrem schönen, mehrstimmigen Gesang. Das Ganze endete ausnahmslos mit einer Mischung aus verstreutem Applaus und einzelnen Buhrufen, und dann sah Jouni, wie sich Adrianas Trauermantel meldete: Es passierte jedes Mal.
Ariel schien das alles nicht mehr zu interessieren, Applaus und Buhrufe waren ihm offenbar völlig egal. Mittlerweile war er auf dem besten Weg, ein richtiger Langhaariger zu werden, und hatte außerdem seinen Plan in die Tat umgesetzt und sich einen langen, filzigen Bart und Koteletten stehen lassen, die Alex Karjagins in Üppigkeit Konkurrenz gemacht hätten, wenn sie nicht so unregelmäßig und hell gewesen wären. Ariel lebte in diesem Sommer in seiner eigenen Welt, er war zerstreut und unnahbar und schien von den Einkünften aus ihren Auftritten zu leben: Hullu-Hurme und Stenman hatten Jouni gesagt, dass niemand es mehr wage, Ariel als Schnapsverkäufer oder Kurier einzusetzen, er gelte als unzuverlässig, außerdem errege sein immer aparteres Aussehen die Aufmerksamkeit der Polizei.
Eines Nachts fuhren sie nach einem missglückten Auftritt in Lojo auf der Autobahn Richtung Helsingfors. Ariel hatte verlangt, seine Gitarre mit ins Auto nehmen zu dürfen, aber es war eng auf der Rückbank, und die Stimmwirbel hatten an Jounis Hinterkopf bereits eine kleine Wunde aufgekratzt. Dennoch bestand Ariel darauf, weil er an einem neuen Song schrieb. Die ganze Fahrt über saß er da, summte und schlug Akkorde an, und als sie sich der Stadt näherten – sie fuhren gerade durch Kilo –, platzte er mit den Worten das ist keine Straße, das ist eine blutende Wunde heraus: Melodie und Phrasierung erinnerten an Bob Dylan. »Nein, verdammt«, fauchte Jouni gereizt, »jetzt hältst du verdammt noch mal den Mund!« Ariel verstummte und schmollte für den Rest der Fahrt.
Seit dem Winter hatten sich einige Dinge verändert. Die Nächte zum Beispiel: das magische Licht, das Grün, der Duft der Schotterpisten nach Regen, die Nebelschwaden an den Wiesenrändern, die Elche, die auf die Äcker hinaus glotzten, das hysterische Vogelgezwitscher bei Sonnenaufgang. Das war so anders, als durch die kompakte Dunkelheit des Januars mit ihren hohen Schneewällen in jeder Kurve zu schlittern.
So anders auch dies: Adriana schlief nicht mehr mit dem Kopf auf Jounis oder Ariels Schulter gelehnt, sie saß auf der Rückbank aufrecht zwischen ihnen, und wenn sie einnickte, ließ sie ihren Kopf weder nach links noch nach rechts fallen. Und Stenka Waenerberg war entspannter und schlagfertiger als je zuvor, er war so lässig und wortgewandt, dass es schon wieder angespannt, sogar gekünstelt wirkte. Stenkas Haltung Adriana gegenüber war ambivalent, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er sie anbeten oder abweisen sollte, weil sie so jung und zerbrechlich war. Ariel schien nicht zu begreifen, was vorging, und ließ keine giftigen Kommentare über Stenka mehr fallen und kommentierte auch sonst nichts, er schien an fast allem das Interesse verloren zu haben. Jouni begriff dagegen nur zu gut, was Stenka tat: Er versuchte zu vertuschen, dass er mit Adriana schlief. Allerdings wusste Jouni nicht, ob Adriana Stenka erzählt hatte, dass Jouni in der Tür zum Schlafzimmer gestanden und gesehen hatte, wie er Brüste, Hals und Schlüsselbein geküsst hatte. Adriana und Jouni sprachen kaum noch miteinander. Sie gingen unbeholfen und förmlich miteinander um, selbst auf der Bühne merkte man, dass sie sich mit Scheu begegneten. So war er, dieser Sommer: im Ford Mercury, im Probenraum, überall herrschte eine
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