Geh nicht einsam in die Nacht
Lyriker sah ihn vorwurfsvoll an: Jouni hob entschuldigend die Hand, wich schnell zurück und zog die Tür hinter sich zu. Er ging weiter den Flur hinab, während die Musik lauter wurde, die Jazzfreaks hatten eine neue Scheibe aufgelegt und bei der Gelegenheit offenbar lauter gedreht. Jouni öffnete eine weitere Tür, diesmal jedoch vorsichtig.
Am anderen Ende des Zimmers gab es ein großes, relativ hoch gelegenes Fenster. Es stand offen, aber die Stadt dahinter schlief noch, entfernte Möwenschreie und sprödes Vogelgezwitscher waren die einzigen Geräusche. Mildes, graues Licht strömte ins Zimmer. Unter dem Fenster stand ein breites Bett, auf der Bettkante saß Adriana. Auf dem Fußboden lagen ein schwarzer Polojumper, eine helle Jeans und ein Unterhemd, das sie wohl unter dem Jumper getragen hatte. Vor ihr kniete Stenka Waenerberg. Er war angezogen, aber barfuß, und die Art, wie sein Hemd flatterte, verriet, dass es aufgeknöpft war. Adrianas Oberkörper war nackt, und Jouni sah auf einmal, wie dünn sie war, wie ein Vogel, ihre Schlüsselbeine zeichneten sich deutlich ab. Ihre Brüste waren spitz und klein, aber er sah immer nur eine, denn wo ihre Brüste waren, dort befand sich auch Stenka Waenerbergs Hinterkopf. Stenka küsste Adrianas Hals und danach ihre Brüste, er tat es langsam, systematisch und sehr konzentriert, und seine dunkel gelockte, aber schon leicht ergraute Haarpracht und seine Schultern und der Rücken versperrten die Sicht. Nichts jedoch versperrte den Blick auf Adrianas Gesicht. Ihre Augen waren geschlossen gewesen, öffneten sich nun aber und sahen direkt in Jounis. Er erschrak. Ihr Blick war leer, hohl, abwesend. Das war nicht die alltägliche Adriana und ebenso wenig die Adriana, die Wein und Sekt trank, ausgelassen wurde und flirtete. Und Jouni wusste: Sie hatte etwas genommen. Oder vielmehr: Der Drecksack Stenka hatte ihr etwas untergejubelt. Jouni spürte den Willen wachsen, den Willen und den Zwang, dieser Situation ein Ende zu machen, ins Zimmer zu stürzen, Stenkas Haare zu packen und seine Managerlippen von Adrianas weißer Haut fortzuzwingen. Aufs Maul. Ihm aufs Maul zu schlagen. Zwei Fausthiebe nur, damit er sie in Ruhe ließ. In die Rippen, nicht in die Visage, immerhin war er ihr Manager und Mädchen für alles.
Adriana schien in Jounis Augen gesehen zu haben, dass er sich vor dem Sprung zusammenkauerte. Sie suchte seinen Blick mit ihrem und schüttelte fast unmerklich den Kopf. Stenka verließ ihre Brüste und küsste stattdessen ihr Schlüsselbein. Adriana hielt Jounis Blick fest und schüttelte nochmals den Kopf, sah anschließend die Türklinke und danach wieder ihn an, um ihm zu signalisieren, dass er gehen solle. Dann schloss sie die Augen und schob gleichzeitig ihre Hände in Stenkas Haare, als wollte sie ihn dort halten, wo er war. Jounis Augen konnten sich nicht von ihrem Gesicht lösen. Es war schräg nach oben gerichtet, ihre Züge waren markanter als sonst, und ihre Haare sahen im schwachen Morgenlicht eher schwarz als kastanienbraun aus. Ihr Gesicht hatte einen intensiven Ausdruck, der ihn an ein Gemälde erinnerte, dessen Abbildung er in einem Buch gesehen hatte: Es ließ sich nicht entscheiden, ob Adriana litt oder genoss.
Jouni wich ebenso langsam aus dem Zimmer, wie er es betreten hatte, und zog, unendlich vorsichtig, die Tür hinter sich zu. Er ging durch den Flur, durchs Wohnzimmer und in die Küche. Er nahm sich ein Glas, füllte es mit Wasser und trank mit großen, hastigen Schlucken. Er füllte sein Glas ein zweites Mal und trank erneut. Fotograf Karnow saß allein am Küchentisch und starrte Jouni kühl und abweisend an, als wollte er signalisieren, dass er, Karnow, in der Wohnung noch etwas zu erledigen hatte, Jouni dagegen nicht. Als er die Wohnung verließ, nickte Jouni kurz den pathologisch betrunkenen Jazzfans zu. Sie bemerkten ihn nicht. Er ging ins Treppenhaus, lief sechs Treppen hinunter, stieß die Tür auf und trat auf die Straße hinaus.
Morgen.
Luft.
Licht.
Freiheit.
5
Im Juni und in den ersten zehn Tagen im Juli hatten sie Auftritte. Alles in allem sechzehn Stück, alle von Stenka Waenerberg gebucht, alle im südlichen Finnland und dem bewährten Konzept folgend: Stenkas Ford Mercury, Abholen von Jouni und Ariel in Berghäll, die kollektive Nervosität, wenn sie sich dem Jugendzentrum oder Tanzlokal näherten, die Rückfahrt durch die Nacht mit Nuortamos leisem Mundharmonikaspiel und Adriana schlafend auf der Rückbank.
Musikalisch
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