Geh nicht einsam in die Nacht
ungemütliche Stimmung. Die alte Ungezwungenheit kehrte nur zurück, wenn Ariel aus seiner Lethargie erwachte und wieder ganz der Alte war. Dann leitete er die Spannung zwischen Jouni und Adriana ab, dann konnten sie scherzen, wie sie es immer getan hatten, rau, aber dennoch zärtlich. Plötzlich waren sie wieder ein Trio, drei eingespielte Freunde, und die Kommentare flogen fröhlich und respektlos und ohne Scheu vor Frechem oder Absurdem hin und her. Doch diese ungezwungenen Momente blieben kurz, und schon bald waren sie wieder im Alltag: Nortamo blies sachte in seine Mundharmonika, Adriana saß aufrecht auf der Rückbank und wirkte abweisend, Ariel spielte auf seiner Gitarre, Jouni schaute aus dem Fenster und grübelte darüber nach, ob er den Job annehmen sollte, den Keijo Kantola ihm angeboten hatte, und Stenka Waenerberg fuhr den Wagen und betrachtete im Rückspiegel verstohlen Adrianas Gesicht, wenn sie eingeschlafen war.
Seit Stenka Waenerberg ihr Manager war, hatten sie den südlichsten Streifen des Landes recht gut kennengelernt. Sie hatten ihn kreuz und quer durchfahren, von Åbo im Westen bis nach Fredrikshamn im Osten. Nördlicher als Tammerfors waren sie allerdings nie gekommen.
Finnland war ein seltsames Land voller seltsamer Menschen. An der Oberfläche war der Lebensstil streng und formell, darunter war das Leben brutal. Eine Machermentalität, die Fähigkeit zu improvisieren, war aus den Kriegen haften geblieben, aber gleichzeitig verfolgten die Menschen ehrliche Absichten und waren leicht zu täuschen. Gerissenen ausländischen Besuchern fiel an den Finnen eine fast jungfräuliche Qualität auf, einen an Einfalt grenzenden Glauben an das Gute und Zuverlässige im Menschen.
Diese Gutgläubigkeit florierte auch im Süden, obwohl dort die größten Städte lagen. Es war ein Land, in dem sieben von acht Mitgliedern der spanischen Tanzkapelle Carlos Romer & Los Hidalgos nach einem nur einmonatigen Frühlingsengagement im Restaurant Fiskartorpet in Helsingfors eine Vaterschaftsklage am Hals hatten. Der Einzige, der ungestört das Land verlassen konnte, war Carlos Romero selbst, der sich in Grund und Boden schämte, als er sich an Bord der Fähre Bore III nach Stockholm schlich: Seine Virilität und seine sexuellen Vorlieben wurden plötzlich stark in Frage gestellt.
Es war ein Land, in dem gastierende amerikanische Jazzgrößen bei den Jamsessions ihre Soloeinsätze verpassten, weil ihre Mitmusiker immer »Take your hug, Steve!« riefen, ohne zu begreifen, dass sich die Bedeutung des lokalen Slangausdrucks hugi niemandem erschloss, der in Manhattan auf der 127th Street aufgewachsen war. Es war ein Land, dessen Hauptstadt soeben eine Touristenbroschüre herausgegeben hatte, in der Gästen aus fernen Ländern mitgeteilt wurde, Männer könnten mittags ohne Krawatte essen gehen, sofern ihr Hemd unifarben und adrett sei, nach achtzehn Uhr verlangten die Restaurants jedoch ausnahmslos eine Krawatte und einen unifarbenen Anzug in gedeckten Farben, während die Damen ein Kleid tragen sollten, nur in Ausnahmefällen könne ein diskretes Kostüm toleriert werden.
Es war, kurzum, ein Land, für das ein sprachkundiges Folktrio mit einem modernen und internationalen Repertoire von großem Nutzen hätte sein können. Und genau darauf warteten Ariel, Adriana, Jouni und Stenka, wenn sie im Mercury saßen und sich durch die Juni- und Julinächte schwiegen: dass ihr Lied ein Erfolg werden würde, ein großer Erfolg.
Aber es passierte nichts. Nach dem 12. Juli waren keine weiteren Auftritte gebucht – Adriana wollte mit einer Freundin nach Stockholm und Kopenhagen reisen –, und bis dahin war ihre Platte wenige Male im Radio gespielt und ein paar hundert Mal verkauft worden. Der letzte Auftritt war in Hangö, und auf dem Heimweg versuchte Stenka Waenerberg, ihnen Mut zu machen, er sagte, Geh nicht einsam in die Nacht werde es bestimmt noch schaffen, es sei ein so schöner Song, dass er einfach Erfolg haben müsse. Aber im tiefsten Inneren wusste Stenka genau wie die anderen: Die Sache war gelaufen, Ariels Meisterwerk war es nicht gelungen, das Interesse der Welt zu wecken.
* * *
Am letzten Samstag im Juli fand eine große Party statt. Adriana war eben erst von ihrer Reise zurückgekehrt, und wegen ihr waren auch Jouni und Ariel eingeladen worden, da waren sich die beiden sicher: Die Fete fand bei Sam Karnow auf der Insel Drumsö statt, und der selbstsichere Fotograf hatte sie nie auch nur andeutungsweise
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