Geh nicht einsam in die Nacht
verlieren, gestikulierte aber dennoch »Warte! Nur noch eine Minute!«. Terhi legte gereizt den Kopf schief, blieb aber, fürs Erste zumindest. Jouni ging zu dem Zimmer, in dem Adriana war, klopfte an und drückte gleichzeitig die Türklinke herunter. Die Tür war abgeschlossen. Adriana weinte nicht mehr, aber er konnte sie hören, ihre Atemzüge wurden von leisen Schluchzern begleitet. »Addi«, versuchte er es. Keine Antwort. »Addi!«, sagte er etwas lauter. »Ich bin’s, Jone.« »Geh weg!«, drang aus dem Zimmer. »Ich will mit niemandem reden!« »Ich will doch nur wissen, ob du okay bist, Addi«, erwiderte er. »Dieses verdammte Miststück!«, sagte sie hinter der Tür. Jouni dachte an Stenkas selbstbewusste und lässige Art und bekam Lust, das habe ich doch die ganze Zeit gewusst zu sagen, schluckte die Worte jedoch hinunter. Stattdessen sagte er: »Tja, Karnow hat mir gesagt, was passiert ist … ich mache mich jetzt auf den Heimweg und wollte mich nur vergewissern, dass du zurechtkommst.« Als er die Worte aussprach, wusste er genau, was er wegließ: kein Wort über Terhi und keine Frage, ob die unglückliche Adriana sich mit ihm ein Taxi in die Stadt teilen wollte. »Fahr zur Hölle, Jouni!«, fauchte Adriana wieder. »Lass mich in Ruhe!« Sie benutzte seinen richtigen Namen statt des intimeren Jone, und er fühlte sich abgespeist. Den ganzen Frühling und Sommer hatte er sich in Adrianas Gesellschaft unwohl gefühlt, vielleicht sogar noch länger, und mit jeder neuen Woche wuchs seine Verwirrung. Er begehrte sie auch in diesem Moment, begehrte sie, obwohl sie verschmäht und gedemütigt und wahrscheinlich auch sturzbetrunken war. Aber es ging nicht nur um Verlangen, es ging auch darum, dass Adriana etwas anderes in ihm hervorlockte, etwas, was er nie zuvor empfunden hatte. Er wollte sich um sie kümmern. Er wollte, dass es ihr gut ging. Er wollte, dass sie glücklich war. Solche Gefühle war Jouni nicht gewöhnt, und er war bei weitem nicht so erfahren, wie er sich zu geben versuchte. Er hatte bisher nur mit drei Mädchen geschlafen, von denen zwei dafür bekannt waren, nicht besonders wählerisch zu sein, und die dritte war so verliebt in ihn gewesen, dass es ihn angewidert hatte. Was er für Adriana empfand, all das Zärtliche , verwirrte ihn. Und jetzt stand zudem Terhi im Flur, Terhi, deren Mund feucht war und deren Brustwarze steif geworden war, als er sie nur leicht berührt hatte. Er kannte sie noch nicht, spürte aber, dass er sie haben wollte. Eine glasklare und kühle Einsicht erreichte ihn, sie schnitt sich quer durch den Rausch: Er war verletzt, weil Adriana ihn angeschnauzt hatte, er wollte verletzt sein, weil Adriana ihn angeschnauzt hatte, denn das machte es ihm leichter. Wenn er abserviert und verletzt wurde, brauchte er sich keine Gedanken mehr zu machen, konnte ein Taxi rufen und mit Terhi wegfahren. »Wie du willst«, sagte er durch die Tür, »dann fahre ich jetzt, pass auf dich auf.« Er ging los, machte aber plötzlich auf dem Absatz kehrt und ging zurück. »Addi«, sagte er mit leiser Stimme. » HABE ICH DIR NICHT GESAGT, DASS DU ZUR HÖLLE FAHREN SOLLST !«, schrie sie durch die Tür. »Mache ich«, sagte Jouni, »mache ich. Aber hüte dich vor Karnow, lass ihn nicht an dich ran. Mit dem Typen stimmt was nicht.« »Jone«, sagte Adriana, sie stand jetzt dicht hinter der Tür, öffnete sie jedoch nicht. »Ja?«, sagte Jouni. »Ist Ariel noch da?«, fragte sie. »Keine Ahnung«, antwortete Jouni, »ich habe ihn schon seit Stunden nicht mehr gesehen. Willst du nicht rauskommen?« »Nee, noch nicht«, antwortete sie. »Jetzt hau schon ab, ich weiß, dass du nicht allein bist. Ich hab keine Angst vor Karnow, mit dem werde ich schon fertig.«
An dieser Stelle könnten wir uns entschließen, uns in das Taxi zu setzen, das Jouni und Terhi zu dem erst kürzlich entstandenen Vorort Tallinge weit draußen in der nordwestlichen Ecke von Helsingfors bringt. Wir könnten Jouni so lange begleiten, dass wir ihn am Sonntagmorgen gegen neun aufwachen sähen, wir würden ihn einen schnellen Blick auf die schlafende Terhi werfen sehen, wir würden sehen, wie er aufsteht und auf den kleinen Balkon in der achten Etage des Hauses Nybogtan 3 hinausgeht, wir würden sehen, dass er Unterhose und Unterhemd trägt und der Balkon ein Eisengeländer und eine Verkleidung aus blaugrauem Wellblech hat. Wir würden ihn beobachten, wie er sich eine Zigarette anzündet, sich über das Geländer lehnt und den Blick
Weitere Kostenlose Bücher