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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Westoe
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über die Umgebung schweifen lässt, die ins Morgenlicht getaucht ist, wir würden sehen, wie sein Blick über das felsige Tallinge gleitet, wo die nagelneuen, fast unwirklich weißen, zwölfstöckigen Häuser zwischen den Bäumen verstreut stehen, deren Wipfel bloß bis zum sechsten Stock reichen. Wir würden Jouni lange unter die Lupe nehmen, wir würden ihn so geduldig beobachten, dass wir am Ende sehen würden, was er dachte: Wir würden sehen, dass er, gegen das Geländer gelehnt und rauchend, denkt, dass die Dinge vor ihm, das Bahnhofsgelände in Tallinge, genauso zum Neuesten vom Neuen gehört wie Sam Karnows schicke Wohnung am Nordufer von Drumsö, aber trotzdem haben diese beiden Orte keine Ahnung voneinander, es ist, als lägen sie in zwei verschiedenen Städten, obwohl sich beide innerhalb der Stadtgrenzen von Helsingfors befinden.
    Aber wir fahren nicht nach Tallinge, noch nicht. Wir bleiben in dem Haus auf der Insel Drumsö. Wir befinden uns auf dem Balkon, es ist früher Morgen, und im Laufe der Nacht hat sich aus Südwesten eine große Wolkenbank herangeschoben. Das abgelegene Tallinge wird sie erst am späten Vormittag erreichen, aber hier ist der Himmel bereits grau, und es weht ein frischer Wind: Auf der Bucht rollen giftige Wellen, und die Hitzewelle lebt nur noch in der Erinnerung. Irgendwo, in einem der Schlafzimmer, hat Ariel eine Decke gefunden, in die er sich auf dem Balkon gehüllt hat, sein Kopf liegt auf einem Kissen, und bis zu diesem Moment hat er den bleischweren Schlaf des Weggetretenen geschlafen. Vor anderthalb Stunden, als die letzte größere Gruppe gehen wollte, hat Sam Karnow ihn ziemlich unsanft mit dem Fuß angestoßen und an seine Freunde gewandt, die dabei standen und auf ihre Taxis wartend rauchten, eine höhnische Bemerkung über »Gesindel« gemacht. Ariel hat nicht reagiert, sondern weitergeschlafen, aber jetzt, im grauen Morgenlicht, ist er bereits halb erwacht. Er friert und hat sich wie ein Fötus zusammengekauert, zittert aber trotzdem, und als er die müde, aber ungeduldige Stimme »Ari! Ari! Wach auf! Ich will hier weg!« sagen hört, ist er sofort hellwach. Er sieht eine kastanienfarbene, zerzauste Haarmähne, dann schaut er in Adrianas braune Augen, und ihre Augäpfel sind rot unterlaufen und die Lider geschwollen, als hätte sie geweint. Als Ariel die Augen aufschlägt, bekommt Adrianas Blick etwas Erschrockenes. »Großer Gott, du siehst ja auch nicht besser aus!«, sagt sie, legt dann aber einen Finger auf seine Lippen und flüstert: »Schnapp dir deine Gitarre, dann hauen wir ab, ich habe genug Geld für ein Taxi. Es ist kaum noch jemand da, Karnow ist mit ein paar anderen in der Küche, ich will ihm nicht begegnen.«
    Sie schlichen durch die Wohnung. Aus der Küche drangen leise Stimmen, aber ansonsten war es schon der Tag danach; die Luft war verraucht, überall standen überquellende Aschenbecher, klebrige Gläser und leere Flaschen herum, Platten und Plattenhüllen lagen kunterbunt durcheinander auf dem Fußboden. Sie schlüpften ungesehen hinaus, mussten jedoch unter der Autobahn hindurch zu den älteren bebauten Teilen von Drumsö gehen, bis sie eine Telefonzelle fanden. Als ihr Taxi kam, fuhren sie in Familie Mansnerus’ sommerlich leere Wohnung in der Havsgatan. Sie lag im sechsten Stock, und vom Fenster in Adrianas Zimmer aus hatte man Aussicht auf den Hafen und die kleinen Inseln Ugnsholmen und Skifferholmen und das offene Meer dahinter. Einige Segelboote und ein Fischkutter waren früh ausgelaufen und durchpflügten die graugrünen Wellen, die stetig höher zu werden schienen. Ariel verließ sich darauf, dass Adriana wusste, was sie tat, er erinnerte sich, dass die Familie ihrer Mutter in den Schären vor Borgå eine kleine Insel besaß: Er nahm an, dass sich die Eltern und Adrianas Schwester Eva dort aufhielten. Er ließ sich im Wohnzimmer auf die Couch fallen. Hinterher sollte er sich noch lange daran erinnern, wie hell das Zimmer gewesen war, die Möbel waren beige, weiß und zitronengelb, die Wände weiß, die Bilder an den Wänden weiß und in Pastellfarben. »Hast du noch was?«, fragte Adriana. Ariel nickte, beugte sich über das Futteral der Levin-Gitarre, zog den Reißverschluss auf, nestelte einen Moment mit der Hand darin und zog ein kleines Papierpäckchen und eine anspruchslose Pfeife heraus. Als er das Papier auseinanderfaltete, sah der winzig kleine, braune Brocken vor lauter Helligkeit im Raum schwarz aus.
    Während sie rauchten,

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