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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Westoe
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Fräulein Dorléac und er, das Pfeffersteak und das Lachsfilet hatten sie fast verspeist –, er hatte gesehen, dass sie die gesamte Sauce Hollandaise vom Fisch gestrichen hatte – und ihre Weingläser fast geleert, und Jouni dankte dem glücklichen Umstand, dass er nur zwei Wochen vor dieser unerwarteten Begegnung seinen einundzwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte: Das vereinfachte die Dinge erheblich, er lief weniger Gefahr, dass auf peinliche Weise sein Alter enthüllt wurde, falls er und Mademoiselle sich entscheiden sollten, nach dem Essen noch in einer Hotelbar vorbeizuschauen und einen Drink zu nehmen.
    »Wie alt sind Sie, Mr. Manière?«, fragte Fräulein Dorléac, und ihr R war noch sanfter als sonst. Ihr Englisch klang atemlos, es war, als hätte sie Glasscherben oder Strohhalme im Mund und würde sich pausenlos fürchten, sich an ihnen zu schneiden. »Einer Dame darf man diese Frage nicht stellen, das wissen Sie natürlich, aber als Dame darf ich sie Ihnen doch hoffentlich stellen?«
    Jouni rechnete schnell – ihr Geburtsdatum, der 21. März 1942 – und sagte: »Fünfundzwanzig. Vor ein paar Wochen hatte ich Geburtstag.«
    »Hätten Sie nicht einen solch athletischen Körperbau, würden Sie fast jünger aussehen, als Sie sind«, sagte Fräulein Dorléac. »Wir sind gleich alt, ich habe nächsten Monat Geburtstag.«
    Sie erzählte ihm von den Filmaufnahmen des Tages in der Nähe des früheren Ateliers des Malers Gallin-Calelás (sie meinte Gallen-Kallela) nordwestlich von Munksnäs. Der Ort, an dem das Atelier lag, hieß Tarvaspää, aber Fräulein Dorléac sagte »tarsapé«, und Jouni verzichtete auch diesmal darauf, sie zu berichtigen. Fräulein Dorléac berichtete, dass sie während der Aufnahmen Motorschlitten gefahren waren, Michael Caine und sie, und sie erzählte, dass die britischen Kameramänner jeden Tag froren wie junge Hunde und große Mengen Liptontee aus Thermoskannen tranken und über diese verschneite Gefriertruhe von einem Land fluchten.
    »Aber ich mag Finnland«, sagte sie anschließend. »Die Leute bleiben auf Distanz, man wird in Ruhe gelassen. In Frankreich ist das anders, da mischen sich alle immerzu ein … Herr Manière, hören Sie mir eigentlich zu?«
    Jouni zuckte zusammen. Er hatte sich wieder in ihrer Schönheit verloren. Sie trug ein ärmelloses, recht kurzes Kleid, dessen Farbe irgendwo zwischen Silber und Blei changierte, und wenn sie sich bewegte, glitzerte das Kleid im Licht. Jouni dachte an Terhi in seiner Wohnung, er wusste, dass es ungerecht war, konnte aber nicht anders, er dachte an ihre unlackierten Fingernägel, an ihre kurzen, stumpfen Finger, die sich über die Löcher der Querflöte bewegten, an ihre hässlichen Ban-Lon-Jumper, durch die hindurch es unter ihren Armen schwach nach Schweiß roch. Fräulein Dorléacs Arme waren lang und schlank, ihre Oberarme waren regelrecht dünn, ihre ganze Gestalt war groß und dünn. Sie schien sich ihrer Schlankheit allerdings überhaupt nicht bewusst zu sein, sie war so selbstvergessen, so schön, so lebendig, so stark. Plötzlich tauchte Adriana Mansnerus in Jounis Gedanken auf: genauso selbstsicher, so unmittelbar und lebendig konnte auch sie sein, zumindest an Tagen, an denen sie sich sicher und geborgen fühlte. Aber es gab auch andere, schlechtere Tage … wie sehr er sich wünschte, dass Adriana eines Tages Fräulein Dorléacs Stärke bekommen würde!
    »Entschuldigen Sie«, sagte er, als er begriff, dass er in Gedanken abgeschweift war und sie ihn dabei ertappt hatte, dass er ihr nicht zuhörte. Was hatte sie gerade erzählt – irgendetwas darüber, dass Ken an einem Vormittag, an dem sie mit den Motorschlitten weit in Richtung offenes Meer hinausgefahren waren und an der Fahrrinne gedreht hatten, Michael gezwungen hatte, von einer Eisscholle zur anderen zu springen? »Wir sollten wohl gehen«, lenkte er sie ab, »dieses Restaurant schließt leider früh. Möchten Sie vielleicht noch irgendwo einen Drink nehmen?«
    »Ich glaube, ich möchte spazieren gehen«, antwortete Fräulein Dorléac. »Ja, ich denke, es wäre wirklich herrlich, spazieren zu gehen. Haben Sie Lust?«
    Sie gingen durch den Esplanadenpark, auf den Spuren Ariels und Adrianas, die dort zwei Monate zuvor auf und ab flaniert waren. Sie hatte sich in ihren rotbraunen Pelzmantel gehüllt und den Schal hoch- und die teure Pelzmütze so tief in die Stirn herabgezogen, dass als Einziges ihre Augen sichtbar waren, die großen Rehaugen.
    »Sie haben

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