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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Westoe
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möglicherweise in irgendeiner Zeitung gelesen, dass ich lebenslustig bin, wie man so sagt«, meinte sie. »Sie wissen schon, Joie de vivre . Und nun glauben Sie vielleicht, dass wir zwei ein Taxi nehmen und gemeinsam zu meinem Zimmer ins Hotel fahren werden?«
    »So etwas würde mir niemals in den Sinn kommen, Mademoiselle, wie können Sie nur …«, protestierte Jouni.
    »Was in den Zeitungen steht, ist nicht immer gelogen«, unterbrach sie ihn brüsk, »nicht ganz.« Sie bogen unten am Cholerabecken um die Ecke und gingen den Südkai entlang, zu ihrer Linken lag die Markthalle, und Jouni hätte sie ihr gerne gezeigt. Aber Fräulein Dorléac gab ihm dazu keine Gelegenheit, sondern fuhr fort: »Sie scheinen ein Gentleman zu sein, und unter günstigen Umständen könnte ich mir durchaus vorstellen, Ihnen einen Abend Gesellschaft zu leisten. Nun ja, vorausgesetzt, dass Sie nicht Französisch sprechen. Meine Muttersprache ist die Sprache der Liebe, aber wenn Sie darin radebrechen … eh bien! Aber ich sagte: unter günstigen Umständen. Und nun ist es zufällig so, dass man mir erst kürzlich das Herz gebrochen hat. Und das ist nicht günstig. Mit gebrochenem Herzen bin ich zu nichts in der Lage. Ich schaffe es kaum, vor der Kamera zu agieren.«
    Ein schneidender und kalter Windstoß biss aus Südosten kommend zu. Fräulein Dorléac stöhnte auf und zog den Schal noch ein wenig höher, um Mund und Nase zu schützen. Jouni sah seine Chance gekommen und sagte:
    »Ich verstehe vollkommen, was Sie meinen. Und ich hatte auch wirklich nicht …«
    Wieder unterbrach sie ihn: »Es ist kalt, wollen wir nicht umkehren? Sie sind doch so lieb und besorgen mir ein Taxi? Es war mir wirklich ein Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
    Schweigend gingen sie zurück nach Norden und wandten sich dann gen Westen, erneut in Richtung des Esplanadenparks. Jouni war bewusst, dass er sich eigentlich gedemütigt fühlen müsste, aber in seinem Inneren brodelte etwas völlig anderes. Er fühlte sich mündig, flügge, er hatte abgehoben, war endlich unterwegs! Es hatte Momente gegeben, in denen er in der Redaktion gesessen und Angst gehabt hatte, Angst vor Formalitäten, Angst davor, Fehler zu machen, Angst davor, als der halbgebildete Emporkömmling entlarvt zu werden, der er letztlich war. Aber jetzt! Wenn er mit einer Frau wie Fräulein Dorléac essen gehen und Wein trinken und sich auf Englisch unterhalten konnte, wenn er mit ihr durch den Esplanadenpark und am Südkai entlang flanieren und erleben konnte, wie sie zwar Grenzen zog, aber dennoch halb verführerische Dinge zu ihm sagte, wenn er das alles konnte, ja, dann war er endlich unterwegs in die weite Welt, zu großen Abenteuern, fort vom Schnapsgestank und den Schlägereien und dem Eisengeschmack im Mund, fort von den kleinen und tristen Wohnungen in der Castrénsgatan, der Åsgatan und dem achten Stock des Hochhauses in Tallinge.
    * * *
    Für Adriana war es kein glücklicher Winter, und das Frühjahr gestaltete sich auch nicht anders. Dabei sah auf den ersten Blick eigentlich alles ziemlich gut aus. Aber sie schaffte es kaum einmal in die Universität, da sie fast täglich vor der Kamera stand. Pflichtbewusst meldete sie sich zu Prüfungen an und legte sie ab, so gut es eben ging, aber die Ergebnisse waren bescheiden. Sie war mittlerweile seit vier Jahren, acht Semestern eingeschrieben, hatte ihre Nebenfächer jedoch eher spontan gewählt – ich will studieren, was mich interessiert , pflegte sie zu sagen – und mehrmals die Fächer gewechselt: Ein Examen war nicht in Sicht, nicht einmal ein niedrigerer Abschluss.
    Als Mannequin verdiente sie so gut, dass sie zu Hause auszog und sich eine kleine Wohnung in einem modernen Haus in der Smedsgatan nahm. Dort ließ sie ihrem Hang zu einem Leben als Bohemien freien Lauf. In ihrer Wohnung standen nur wenige Möbel, Adriana schlief auf einer Matratze in der Zimmerecke und kochte sich nur selten etwas. Ihre Mahlzeiten nahm sie stattdessen in Cafés zu sich, aber oft vergaß sie auch einfach, etwas zu essen, und wenn sie in ihrer kleinen Kochnische ausnahmsweise etwas zubereitete, standen die Töpfe hinterher häufig eine Woche oder länger schmutzig in der Spüle. Stenka Waenerberg sagte einmal höhnisch, ihre Wohnung sehe aus, als wohnte darin ein Mann, ein junger Schnösel, der nach abgeleistetem Militärdienst gerade ins Zivilleben eintrete. Nur die Frauenzeitschriften auf dem Fußboden, sie und die Lippenstifte und die kleinen

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