Geh nicht einsam in die Nacht
der Zeit spürte Adriana darüber hinaus, dass ihre – unbenutzte – Stimme immer rauer und unsicherer wurde: schlichtweg schlechter. Aber das machte nichts. Es passierte ja immer so viel. Man konnte so viele Menschen kennenlernen. Und es gab so viele Männer, sie waren unzuverlässig, aber auch wunderbar, und man musste sich bloß an ihren Betrug gewöhnen.
Fast alles war neu, ihre alten Freunde traf sie nicht mehr. Jouni Manner hatte sie seit September nicht mehr gesehen. Sie hatte ihn gelegentlich im Radio gehört und einmal seinen Namen im Fernsehen gesehen, ihn selbst jedoch nicht. Abgesehen von dem Kinobesuch im Corona und einer schnellen Tasse Kaffee in einer Bar im März hatte sie auch keinerlei Kontakt zu Ariel gehabt. Und vielleicht war es auch besser so. Denn wenn sie mit Ariel zusammen war, lebte sie gefährlich: Sie hatte häufig ausprobiert, was Ariel unter die Leute brachte. Und dabei hatte er es ihr nicht etwa aufgedrängt, sie hatte es gewollt, sie war waghalsig, in dem Punkt waren Ariel und sie sich ähnlich, wenn sich die Gelegenheit ergab, konnte sie es einfach nicht lassen, Neues auszuprobieren, irgendetwas in ihr wollte Dinge riskieren, und trotzdem taten ihr diese Joints und Pillen nicht gut, das wusste sie: Es gab Leute, die einen solchen Lebensstil durchstanden, und Leute, denen dies nicht gelang, und Adriana hatte längst erkannt, dass sie zu Letzteren gehörte.
Ein Außenstehender hätte zu dem Schluss kommen können, dass zwei unvereinbare Charakterzüge, Abenteuerlust und Zerbrechlichkeit, um die Herrschaft über Adriana rangen. Ariel und Jouni hatten sich dieser Erkenntnis genähert, und Jouni war ihr am nächsten gekommen. Aber Jouni und Ariel waren nicht mehr da, und niemand hatte ihren Platz eingenommen. Und Adriana? Ihr war bewusst, dass der Abstand zwischen ihren inneren Polen groß war, verhängnisvoll groß, aber sie glaubte fest daran, dass sich diese Pole vereinen ließen. Sie waren wie Yin und Yang, fand Adriana, wenn sie zusammenliefen, würde sie endlich ganz werden. Und wenn nicht, tja, dann war ihre Zerrissenheit das Ergebnis unglücklichen Karmas aus einem früheren Leben, und damit musste sie dann eben leben.
So gerüstet trat sie an einem Märzmorgen mit Schneeregen eine sehr lange Reise an, die mit einem Linienflug, einer Caravelle-Maschine, von Helsingfors nach Stockholm begann. Dort schlossen sich Sam Karnow und einige Musiker an, und daraufhin flogen Adriana und Stenka und die anderen in einer DC -8 nach Las Palmas: In der Maschine beanspruchten sie fünf ganze Reihen für sich. Sobald das Flugzeug in Stockholm abgehoben hatte, begannen die Männer zu trinken, aber Adriana las während der gesamten Reise eine englischsprachige Einführung in das I Ging , sie las Stunde um Stunde, und Stenka reagierte gereizt. Als Adriana aus dem Flugzeug stieg und die trockene, fast heiße Luft auf ihrem Gesicht spürte, war sie verblüfft, dass dies in nur zehn Stunden möglich war: Sie hatte am Vortag auf eine Weltkarte geschaut und festgestellt, dass die Kanarischen Inseln südlicher lagen, als sie geglaubt hatte, bei Westafrika, in Äquatornähe.
Zehn Tage verbrachten sie auf Gran Canaria. Adriana hatte einen einzigen Fototermin, ein Badeanzugspecial für eine Modebeilage, ansonsten machte sie Urlaub. Stenka, sie und Sam Karnow wohnten im Estrella del Mar gleich oberhalb der Uferpromenade Las Canteras. Das Hotel gab an, vier Sterne zu führen, aber Adrianas und Stenkas so genannte Hochzeitssuite bestand aus zwei ziemlich schäbigen Zimmern und einem winzigen Bad, und Karnows Zimmer lag am hinteren Ende des Flurs, war stickig und hatte keine Dusche: Es gab dort nur eine rissige Badewanne und einen widerspenstigen Wasserhahn, so dass Karnow sich die meiste Zeit bei ihnen herumtrieb. Die anderen wohnten in einer Zwei-Sterne-Pension in Hafennähe, in einem Viertel voller Bordelle. Das machte den unerfahrenen Popjungen nichts aus, wohingegen das Gesangsduo Markku & Päivikki Stenka Waenerberg wiederholt bat, ins Estrella del Mar umziehen zu dürfen, aber Stenka machte seinem Ruf als Geizkragen alle Ehre und verweigerte die Zustimmung.
Adriana kannte die anderen Künstler nicht, und da sie und Stenka im Estrella wohnten, lernte sie die Musiker auch nicht kennen. Die Reise war für die Stenkaw-Management-Klienten gedacht, die einen Vertrag mit Sonovox hatten. Die Plattenfirma bezahlte die Tour, sie wollte Artikel und Werbefotos haben, sie hatten sogar Reporter eines Popmagazins
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