Geh nicht einsam in die Nacht
erste der Gruppe, war erst vor einer guten Woche in London vorgestellt worden und in Finnland noch gar nicht erhältlich, so dass im Radio nur die Stücke auf der Single gespielt wurden. Ariel hatte sie gehört, und sie hatten ihm, wenn auch auf eine vage und unverbindliche Art, gefallen. Er war in diesem Frühjahr benebelt und war weder beim Schreiben von Liedern noch in seiner Entwicklung als Gitarrist vorangekommen. Seit Monaten war kein neuer Song mehr entstanden, er suchte nach Melodien und Phrasen, und phasenweise schienen sie auch fast in Reichweite zu sein – und dann konnte er hören, dass sie besser waren als seine alten, schöner, roher, drastischer –, aber dann entglitten sie ihm wieder und lösten sich auf, und es blieb nur Stille zurück. Er suchte eine neue Klangwelt, er wollte Gefühle wie Sehnsucht, Hass, Hunger und Verlassenheit vermitteln, Gefühle, die er seiner Impala und dem Morris-Verstärker nicht abringen konnte: Er suchte etwas Stärkeres, etwas, das härter war als die alte Musik, aber gleichzeitig auch sensibler, etwas, womit er all das Wortlose ausdrücken konnte, das durch sein Inneres wirbelte und so unerträglich wurde, dass er Linderung und Trost in Substanzen suchen musste, die die schärfsten Kanten abfeilten und die fiebrigsten Gedanken abschwächten.
Hinterher stand Ariel im kühlen und locker bewölkten Frühlingsabend und sah, wie sich die Dämmerung auf die Stadt herabsenkte. Er rauchte eine Zigarette nach der andern, und während er rauchte, ließ er Revue passieren, was er gesehen hatte, und versuchte zu verstehen, was er gehört hatte. Damit war er nicht allein. Das Kulturhaus war bei weitem nicht ausverkauft, eher halb gefüllt gewesen, aber vor dem Eingang blieben viele stehen, rauchten Kette und wirkten nahezu betäubt, als hätte ihnen jemand mit einem weichen, aber schweren Hammer auf den Kopf geschlagen. Ariel hielt die Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand und inhalierte in kurzen, nervösen Zügen, während er die Bilder vor sich sah. Wie der einheimischen Vorgruppe Creams N.S.U. missglückt war, weil das Mikrofon des Sängers nicht funktionierte. Wie die Roadies der Hauptattraktion auf die Bühne gekommen waren und die Trommeln und Gitarren gestimmt hatten. Und dann: Jimi Hendrix and his Experience! Mit diesen Worten hatte der Conferencier die Band hereingerufen. Und danach wurde alles wie ein Traum, wie ein so schöner und wilder Traum, dass kein Rausch etwas Derartiges heraufbeschwören konnte. Die voluminösen, krausen Frisuren von Jimi Hendrix, seinem Bassisten und dem Schlagzeuger, die ihre Gesichter umrahmten und sie engelhafter und größer aussehen ließen, als sie eigentlich waren. Die Stapel großer Marshallverstärker zur Rechten und Linken der Musiker: Eine solche Soundanlage hatte Ariel noch nie gesehen, und den anderen ging es genauso, die Verstärker bildeten eine undurchdringliche Mauer, und die Lautstärke war entsprechend. Der Drummer, Mitchell, hatte einen wischenden, fast jazzigen Spielstil, während der Bassist – Redding – die zweite Stimme sang und bei allem, was er tat, ungeheuer sicher wirkte: Vermutlich war er ein begabter Gitarrist, der umgesattelt hatte wie zum Beispiel McCartney. Aber vor allem: Jimi Hendrix selbst! Seine Stimme war nichts Besonderes, sie war dumpf und trüb und klang manchmal fast, als würde er sprechen. Aber was er mit seiner Stratocaster anstellte! Wie er sie mit den Zähnen spielte und mit dem Instrument im Nacken, und wie er direkt auf die Verstärkermauer zuging, als wollte er sie umstürzen, wie er sie attackierte, so dass ein weißhäutiger Roadie dahinter stehen und dagegen halten, den Stapel vor dem Umkippen bewahren musste. Und wie die Gitarre höhnte und drohte und grunzte und donnerte und brüllte und jaulte und wie ein Donnerschlag und ein Blitzeinschlag klang, nur um in der nächsten Nummer, in einem der ruhigeren Songs, lyrisch und rein zwischen den Akkordwechseln zu gleiten, obwohl Hendrix unablässig Begleitung und Leadgitarre kombinierte, Dreiklänge und Bassriffs parallel zu Melodielinien spielte, als wäre er nicht ein, sondern drei Musiker. Purple Haze . Red House . Fire . Hey Joe . The Wind Cries Mary . Es war merkwürdig, wie viele und komplexe Gefühle diese Stücke und Hendrix’ Spielweise ausdrücken konnten. Das Licht, die Dunkelheit, die Liebe, der Hass: Das alles war ungefiltert in Ariel eingedrungen, in seinen Blutkreislauf, in die dunklen und unendlichen
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