Geh nicht einsam in die Nacht
Knochen im Leib brechen und anschließend fünfzig Jahre lang unter großen Schmerzen als regungsloses Bündel leben müssen? Der Hotelier pries Abend für Abend ihr Aussehen und erklärte, sie sehe aus wie eine Spanierin, sie ähnele irgendeiner Ana, deren Nachname ihr nichts sagte, señora ist so wunderschön, sagte er, sind in Finnland alle señoras so schön? Ich bin keine señora, sagte Adriana eines Abends, señorita, soy señorita . Dem Hotelier schien das nicht zu gefallen: Stenka und sie hatten sich als Señor und Señora Waenerberg eingeschrieben, und der Nachtportier, ein jüngerer Mann als der Hotelier, hatte im Mundwinkel die Andeutung eines ironischen Lächelns gezeigt. Sie bereute es nicht, die Wahrheit gesagt zu haben: Es war vielleicht nicht wichtig, aber in dem Moment hatte sie das Gefühl gehabt, es sei wichtig. An den letzten Tagen streikte dann der Warmwasserhahn, manchmal kam Wasser, manchmal nicht, qué hacer? sagte der Hotelbesitzer mürrisch und zuckte mit den Schultern. Und es spielte tatsächlich keine große Rolle, jetzt, da sie nicht mehr duschen konnte, fühlte sie sich bloß noch ein bisschen schmutziger. Am vorletzten Tag folgte sie einer spontanen Eingebung und kaufte ein wohlduftendes Rasierwasser für Göran und gebrannte und karamellglasierte Mandeln in einer Papiertüte für Eva. Sie schickte Postkarten an Ariel und Jouni, und auf Jounis schrieb sie nur: et on n’a même pas essayé, jamais …
Am späten Abend, ja, es war schon Nacht, hörte sie Stenka und Karnow im anderen Zimmer kommende Projekte diskutieren, und in ihren Cocktailgläsern klirrte das Eis. Sie saß auf der Bettkante und hatte ihr Nachthemd angezogen, sie sah ihr Gesicht im großen Spiegel und versuchte, eine abweisende Miene aufzusetzen, fühlte sich aber nicht besonders stark: Sie waren lange aus gewesen, hatten getanzt und getrunken, und auch an diesem Abend drehte sich alles in ihrem Kopf. Die Tür zum anderen Zimmer stand einen Spaltbreit offen, Stenka und Karnow waren verstummt. Sie drehte den Kopf und sah sie durch den Spalt und begegnete ihren Blicken, sie trugen Shorts und T-Shirts, hielten ihre Gläser in den Händen und musterten sie. Keiner sagte ein Wort, und sie wusste, dass Karnow auch in dieser Nacht nicht in sein Zimmer gehen würde, noch viele Stunden nicht, und dann wandten sie den Blick ab und begannen von Neuem, sich in der Gewissheit zu unterhalten, dass es nicht eilte, dass alles seine Zeit hatte, und bei Adriana im Zimmer zog es vom Meer her, zog es durch die offene Balkontür, der dünne, hellrote Vorhang bauschte sich, er bauschte sich wie ein Schleier, und sie dachte daran, wie viele harte und bewertende Blicke es auf der Welt gab, und es schauderte sie ein wenig, denn der Wind war eigentlich warm, aber dann auch wieder nicht.
* * *
Im Grunde hatte Ariel gar nicht vorgehabt, auf ein Konzert zu gehen. Zwei Tage vorher hatte er nicht einmal von ihm gewusst. Im Laufe des Winters und Frühjahrs war er endgültig abgedriftet und lebte in seiner eigenen Welt. Sie bestand aus Gitarrenspiel und plötzlichen, fahrigen Aktionen, um sich neues Geld zu beschaffen, wenn das alte ausging: Die meisten dieser Aktionen verstießen gegen das Gesetz. Er hatte nur wenige menschliche Kontakte, traf sich nur noch mit Hullu-Hurme und Pätkä Suhonen und ein paar anderen. Hurme und Suhonen hatten im April die Fähre nach Stockholm genommen und waren auf der anderen Seite der Ostsee geblieben, und danach war Ariels Einsamkeit noch größer geworden. Lydia und Björk ging er tunlichst aus dem Weg – was nicht weiter schwer war, denn Lydia wohnte immer öfter bei Björk in der Oriongatan –, und er hatte auch keine Lust, Jone oder Addi zu treffen, in ihrer Gegenwart fühlte er sich nur schlecht, wenn auch auf unterschiedliche Art, aber letztlich lief es auf das Gleiche hinaus.
Dann kam jedoch eine Reihe zufälliger Umstände zusammen. Erstens war Ariel bei Kasse. Er hatte einen kleinen Job für Stenman erledigt und die bescheidenen Tantiemen für Geh nicht einsam in die Nacht ausbezahlt bekommen. Zweitens hatte er, was selten geschah, die Pop-Time des schwedischsprachigen Rundfunks gehört, in der die Moderatoren Chrisse und Sue über das Konzert gesprochen und sogar The Wind Cries Mary gespielt hatten. Auch in der neuen Ausgabe des Popmagazins Suosikki hatte es ein kleines Bild mit Bildunterschrift gegeben: Dieser dicklippige Bluesneger spielt Ende Mai im Kulturhaus von Helsingfors. Das neue Album, das
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