Geheimauftrag: Liebe
erwartet; sie waren so dankbar, dass du kamst. Sie wussten Bescheid. Deine Schwestern hingegen schienen mit deinem Kommen gerechnet zu haben und waren einfach beruhigt, dass du da warst. Sie hatten also keine Ahnung.«
Sie machte eine Pause.
»Später dann hast du erklärt, du seiest aufgehalten worden und müsstest sofort zu deinem Regiment zurück. Zwar nicht genau mit diesen Worten, aber alle haben angenommen, du meintest London oder einen Ort an der Küste. Eigentlich wolltest du noch in der Nacht aufbrechen, doch es hatte tagelang geregnet, und die Straßen waren eigentlich unpassierbar. Trotzdem warst du am Morgen fort.«
Sie lächelte schwach. »Vermutlich haben nicht viele außer den Fowey Gallants bemerkt, dass dein Kommen und Gehen mit den Gezeiten zusammentraf.«
Minuten verstrichen. Beide schwiegen, und es herrschte dieselbe ruhige, ungestörte Stille, die sie so oft hier geteilt hatten, während sie von ihrem einsamen Ausguck auf die Welt niederschauten.
»Du warst überrascht, dass ich nicht zu James’ Beerdigung gekommen bin.«
Sie dachte an die Zeit zurück und merkte, dass sie mehr Sorge und Angst verspürt hatte als Überraschung. »Ich wusste, du würdest kommen, sofern es dir irgend möglich wäre, besonders da nach James’ Tod deine Mutter und deine Schwestern ganz allein dastanden. Vor allem deine Mutter, die ihren Ehemann und ihre beiden ältesten Söhne innerhalb weniger Jahre
hatte zu Grabe tragen müssen. Dennoch schien ausgerechnet sie nicht mit dir zu rechnen, noch weniger als bei den anderen Beerdigungen. Sie war nicht überrascht, nur besorgt, zutiefst besorgt. Alle schrieben das ihrem Kummer über den neuen Todesfall zu.«
»Außer dir.«
»Ich kenne deine Mutter ziemlich gut.« Nach einem kleinen Moment fügte sie hinzu: »Und dich auch.«
»Allerdings.« Sie hörte, dass er sich bewegte, hörte seinen veränderten Tonfall. »Du kennst mich so gut, also warum zögerst du, mir etwas zu sagen, von dem du genau weißt, dass du es mir mitteilen solltest?«
»Weil ich dich eben nicht so gut kenne, nicht mehr.«
»Du hast mich dein ganzes Leben lang gekannt.«
»Nein, ich habe dich gekannt, bis du zwanzig warst. Jetzt bist du dreiunddreißig, und du hast dich verändert.«
Eine Pause folgte, dann sagte er: »Nicht wesentlich.«
Sie schaute zu der Stelle, wo er stand, sagte: »Das stimmt wahrscheinlich. Was meine Behauptung allerdings stützt.«
Schweigen, dann: »Ich bin nur ein armseliger Mann. Verwirr mich nicht zusätzlich.«
Armseliger Mann, meiner Seele , dachte sie. Aber es half ihr, mit ihm zu reden, sich vor Augen zu führen, was sie von ihm wusste. Sie begann, sein verändertes Wesen zu begreifen, ihn zu verstehen. Nachdem sie es in den vergangenen dreizehn Jahren bewusst vermieden hatte, über ihn nachzudenken, wurde sie nun durch die Umstände dazu gezwungen, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Es war eine Ironie des Schicksals.
Sie atmete ein. »Gut. Denk bitte einmal an Folgendes: Heute habe ich dich mit Millie und Julia gesehen. Den Charme, das Lächeln, den Witz, die Späße – das alles habe ich wiedererkannt, und trotzdem ist es irgendwie anders. Mit zwanzig warst du ähnlich, der leibhaftige Leichtsinn ohne Tiefgang.
Jetzt hingegen ist diese Unbekümmertheit nur eine Maske, hinter der sich etwas verbirgt.« Sie blickte ihn an. »Und den Mann hinter dieser Maske, den kenne ich nicht.«
Schweigen.
Charles korrigierte sie nicht; konnte es nicht. Er wusste tief innerlich, dass sie recht hatte, ohne sich jedoch sicher zu sein, wie die Veränderung geschehen war oder was er sagen sollte, um sie zu beruhigen.
»Ich denke«, fuhr sie fort und überraschte ihn damit, »dass vielleicht der Mann hinter der Maske immer schon da oder zumindest angelegt war und die vergangenen dreizehn Jahre, all das, was du in der ganzen Zeit getan hast, ihn nur haben stärker werden lassen, sichtbarer. Dein wahres Ich ist ein Felsen, der durch die Jahre geformt wurde, aber deine Oberfläche ist wie mit Moos und Flechten bewachsen und nicht mehr als eine Tarnung.«
Er verlagerte sein Gewicht. »Eine interessante These.« Er vermochte nicht zu beurteilen, wie ihre Einsichten sich auf seine Chancen auswirkten, ihr Vertrauen zu gewinnen.
»Eine nützliche jedenfalls.« Sie sah ihn an. »Ich bemerke, dass du nicht widersprichst.«
Er hielt den Mund, war zu klug, darauf zu antworten. Sie schaute ihn weiter an, dann verzogen ihre Lippen sich leicht, und sie blickte wieder in die
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