Geheime Macht
uns und bewegten uns völlig lautlos weiter, bis wir endlich festen Boden unter den Füßen hatten.
Auf der Schwemmebene vor dem Hügel breitete sich eine kleine Stadt aus. Hütten und Baracken aus Holz, Zelte, Fertigbauten, alle durch Bohlenwege miteinander verbunden, die von einem kreisförmigen Kanal in der Mitte ausgingen. Schlammiges Wasser stand im Kanal und floss in die Schwemmebene ab. Im Zentrum ragte ein massives Gebäude in den Himmel auf. Es war mindestens einhundert Meter hoch und sah aus wie eine Spirale aus gleichmäßigen Windungen, unten breit und nach oben schmaler werdend, bis hinauf zur flachen Spitze.
Eine Lehmspirale. Romans Prophezeiung hatte sich erfüllt.
»Sie haben einen gigantischen Hundehaufen gebaut«, murmelte Raphael.
»Es ist eine Schlange«, sagte Roman. »Seht ihr, wie der Kopf auf der Spitze liegt und die Schlange sich um die Pyramide nach unten windet? Sie haben ihren Gott aus Lehm gestaltet und werden ihn dann wiederbeleben. Das ist sogar ziemlich clever.«
Die Windungen am Grund der Pyramide waren mindestens sechs Meter hoch. Ich spähte durch das Fernglas. Die Spitze der Pyramide war flach. Der Kopf der riesigen Lehmschlange lag auf der Seite, die Augen waren geschlossen. Der von Roman begehrte Stab steckte im Ansatz des Schlangenhalses. Daneben erhoben sich drei menschenförmige Statuen aus Lehm. Sie saßen im Schneidersitz, und die Arme ruhten auf den Knien. Dahinter stand ein kleiner Altar, auf den man Anubis’ Fangzahn gelegt hatte.
Ich sah mir die Ansiedlung an und zählte die Hütten – zwei, fünf, acht, zehn, zwölf … zweiunddreißig Gebäude. Leute liefen hin und her, sowohl Männer als auch Frauen. Mehrere Kinder mit Angelruten sprangen vom Bohlenweg und liefen planschend durch das schlammige Wasser zum Sumpf. Eine Frau und ein jüngeres Mädchen säuberten Fische auf einem Holztisch. Zu ihren Füßen saß eine Katze und wartete auf einen Happen.
Gehen wir von vier Personen pro Gebäude aus. Das wären einhundertachtundzwanzig Leute. Mindestens. Einige Gebäude waren erheblich größer als die meisten.
Sie hatten vier von unseren Leuten getötet. Wir waren mit dem Plan hierher gekommen, jeden Kultanhänger in Reichweite zu erschießen. Es war ein Vernichtungsfeldzug. Ich hatte kein Problem damit, die Erwachsenen zu töten, aber bisher hatte niemand erwähnt, dass es hier auch Kinder gab.
Das unverkennbare Heulen eines Kleinkindes in Not kitzelte in meinen Ohren. Was soll das, verdammt noch mal!
Roman seufzte neben mir. »Warum? Warum müssen sie immer ihre Babys dabeihaben?«
»Wahrscheinlich wollen sie die Schlange damit füttern«, sagte Raphael.
Unser ursprünglicher Plan winkte uns zum Abschied zu und zerplatzte. Wir mussten das Ritual verhindern. Wir mussten Nick, seinen Sohn und die Familien der anderen Gestaltwandler rächen. Und wir mussten sicherstellen, dass keine weiteren Kinder ums Leben kamen.
»Wir könnten uns auf den Dolch konzentrieren«, sagte ich.
»Was? Du willst völlig ungedeckt bis nach oben rennen?« Roman starrte mich fassungslos an.
»Die Magie hat sich zurückgezogen. Jetzt ist die beste Zeit, um sie anzugreifen.« Ich warf einen Blick zu Raphael, in der Hoffnung, dass er mich unterstützte. »Kein Dolch, kein Apep.«
»Was habe ich verpasst?« Anapa tauchte aus dem Nichts auf und hockte sich neben Roman, ohne darauf zu achten, dass er sich den Tausend-Dollar-Anzug mit Schlamm ruinierte.
»Wir werden Ihren Zahn holen«, sagte Raphael zu ihm.
»Ausgezeichnet.« Er legte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Machen Sie weiter. Ziehen Sie es durch.«
»Wir müssen für Ablenkung sorgen.« Raphael sah Roman an.
Der Wolchw runzelte die Stirn. »Was erwartest du von mir? Wenn die Magie außer Kraft gesetzt ist.«
»Ich habe Sprengstoff dabei«, bot ich ihm an. »Wenn jemand die Ladungen hochgehen lässt, würde uns das einen Zeitgewinn verschaffen.«
Wir sahen Anapa an.
»Was, ich?« Er blinzelte.
»Also wollen Sie uns überhaupt nicht helfen?«, sagte Roman vorwurfsvoll.
Anapa seufzte.
Ich zog den Rucksack auf und nahm ein paar Blendgranaten heraus. »Es ist ganz einfach. So zieht man den Stift heraus.« Ich machte es pantomimisch vor. »Dann werfen und in die andere Richtung wegrennen. Sie sind der Gott des Wissens, also werden Sie es hinkriegen.«
Anapa beäugte die Granaten. »Nun gut. Wohin soll ich sie werfen?«
Ich zeigte auf die linke Baumreihe. »Dorthin. In fünf
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