Geheime Spiel
Leben zu führen.«
Ich hätte es ihm so gern erklärt. Dass Hannah sicherlich ein anderes Mädchen finden würde, aber dass ich mehr war als eine Zofe. Dass uns etwas ganz Tiefes verband. Seit dem Tag im Kinderzimmer, als wir vierzehn Jahre alt waren und als ich mich gefragt hatte, wie es wohl sein mochte, eine Schwester zu haben. Als ich für Hannah Miss Prince belogen hatte, so spontan, dass es mich selbst erschreckt hatte.
Dass ich ihr ein Versprechen gegeben hatte. Als sie mich angefleht hatte, sie nicht zu verlassen, hatte ich ihr mein Wort gegeben.
Dass wir Schwestern waren. Heimliche Schwestern.
»Außerdem«, sagte er, »werden wir in Ipswich wohnen. Da kannst du wohl kaum weiter in London arbeiten, oder?« Er tätschelte mir gutmütig den Arm.
Ich betrachtete sein Gesicht von der Seite. So aufrichtig. So sicher. Ohne Hintergedanken. Ich spürte, wie meine Argumente sich in Luft auflösten, wie sie bedeutungslos wurden, noch während ich sie formulierte. Es gab keine Worte, die ihm in wenigen Minuten etwas begreiflich machen würden, das zu durchschauen ich Jahre gebraucht hatte.
Und in dem Augenblick wusste ich, dass ich nie beide würde haben können, Alfred und Hannah. Dass ich mich würde entscheiden müssen.
Kälte unter meiner Haut, die sich ausbreitete wie eine eisige Flüssigkeit.
Ich entwand ihm meinen Arm, sagte, es tue mir leid. Sagte, ich hätte einen Fehler begangen, einen schrecklichen Fehler.
Und dann bin ich von ihm weggerannt. Ich habe mich nicht einmal mehr umgedreht, obwohl ich wusste, dass er wie angewurzelt dort in dem kalten gelben Laternenlicht stand. Dass er mir nachschaute, als ich die dunkle Straße hinunterlief, kreuzunglücklich vor der Tür wartete, bis meine Tante öffnete, und in Tränen aufgelöst im Haus verschwand. Als ich zwischen uns die Tür zu einer gemeinsamen Zukunft zuschlug.
Die Fahrt zurück nach London war eine Qual. Sie dauerte ewig, ich fror, und die Straßen waren spiegelglatt. Aber das Schlimmste war, dass ich mit all meinen Gedanken in dem Automobil gefangen war und nicht aufhören konnte, eine sinnlose Debatte mit mir selbst zu führen. Auf der ganzen Fahrt sagte ich mir immer wieder, dass ich mit dem Entschluss, wie versprochen bei Hannah zu bleiben, die richtige Entscheidung getroffen hatte, die einzig mögliche. Und als wir vor der Nummer siebzehn hielten, hatte ich mich endlich selbst davon überzeugt.
Außerdem glaubte ich ganz fest, dass Hannah sich unserer tiefen Verbindung bewusst war. Dass sie es irgendwann erraten hatte, dass sie die Leute hatte flüstern hören oder dass es ihr vielleicht sogar jemand gesagt hatte. Denn schließlich würde das erklären, warum sie sich mit ihrem Kummer an mich wandte und mich immer
wieder ins Vertrauen zog. Seit dem Morgen, als ich ihr zufällig in der kalten Gasse vor Mrs Doves Sekretärinnenschule über den Weg gelaufen war.
Jetzt wussten wir es also beide.
Und das Geheimnis würde zwischen uns unausgesprochen bleiben.
Ein stilles Band der Zuneigung und Treue.
Ich war erleichtert, dass ich Alfred nichts davon erzählt hatte. Er hätte meine Entscheidung, das Ganze für mich zu behalten, nicht verstanden. Hätte mich gedrängt, mit Hannah darüber zu sprechen, womöglich gar irgendeine Art von Entschädigung von ihr zu verlangen. So liebenswert und fürsorglich er sein mochte, er hätte niemals nachvollziehen können, wie wichtig es für mich war, alles so zu belassen, wie es war. Er hätte nicht eingesehen, warum niemand anders davon wissen durfte. Denn was würde passieren, wenn Teddy davon erführe? Oder seine Familie? Mich konnte man entlassen, aber Hannah würde leiden.
Nein, es war besser so. Ich hatte keine andere Wahl. Es war das einzig Richtige.
Teil 4
Hannahs Geschichte
E s ist an der Zeit, von Dingen zu berichten, die ich nicht selbst miterlebt habe. Grace und ihre Sorgen in den Hintergrund zu schieben und Hannah in den Vordergrund treten zu lassen. Denn während meiner Abwesenheit war etwas geschehen. Ich spürte es sofort, als ich sie sah. Etwas war anders. Hannah war anders. Fröhlicher. Zufriedener. Geheimtuerisch.
Was in der Villa vorgefallen war, erfuhr ich erst nach und nach, wie vieles von dem, was sich in jenem letzten Jahr ereignete. Natürlich hatte ich einen Verdacht, doch ich sah nichts und ich hörte nichts. Nur Hannah wusste genau, was passiert war, und sie hatte noch nie das Bedürfnis verspürt, jemandem ihr Herz auszuschütten. Das war nicht ihr Stil; sie
Weitere Kostenlose Bücher