Geheime Tochter
hättest eine von uns mitnehmen sollen, aus Sicherheitsgründen.«
»Frauen wie mich?«, fragt Somer.
»Ausländische Frauen. Deine nackten Beine und Arme, dein blondes Haar. Das kann ja nicht gut gehen.« Sie blickt tadelnd und schüttelt resolut den Kopf.
Somer denkt an den halblangen Rock und das T-Shirt, das sie heute Morgen getragen hat. Gehört sich nicht? »Ich … beim nächsten Mal denke ich dran.« Sie steht auf. »Entschuldigt die Störung.« Sie geht mit raschen Schritten über den Flur zurück in ihr Schlafzimmer und schließt die Tür hinter sich. Sie versucht, ihre wachsende Abneigung gegen dieses Land zu unterdrücken, das Gefühl, dass alles hier vergiftet ist, dass das unberechenbare Adoptionsverfahren, die rätselhaften kulturellen Regeln und das schwüle Wetter mit Indien als Ganzem verflochten sind. Sie hatte gedacht, sie würde sich bei Krishnans Familie wie zu Hause fühlen, nicht so völlig fehl am Platz. Werde ich mich etwa so in meiner eigenen Familie fühlen, wie eine Außenseiterin? Asha und Krishnan werden einander ähnlich sehen, sie werden gemeinsame Wurzeln haben. Ihre Tochter wird immer aus diesem Land stammen, das ihr so fremd vorkommt. Sie durchwühlt ihren Koffer nach der Jogginghose, die sie seit dem Flug hierher nicht mehr anhatte, und zieht sie sich trotz der drückenden Hitze über das Nachthemd.
17
Ins Herz geschlossen
Bombay, Indien – 1985
Krishnan
Krishnan hinterlässt eine Tropfspur, als er die Treppe zur Wohnung seiner Eltern hochrennt, statt auf den Aufzug zu warten. Somer hatte kaum widersprochen, als er vorschlug, heute Morgen allein aufs Amt zu gehen, wohl weil sie einsah, dass die Adoption so vielleicht schneller über die Bühne gehen würde. Oben angekommen, trifft er sie allein in ihrem Zimmer an, wo sie auf dem Bett sitzt, die Arme um die hochgezogenen Knie geschlungen, und durchs Fenster in den Regen starrt. Sie bemerkt ihn erst, als er vor ihr steht, pitschnass von Kopf bis Fuß. Als sie aufschaut, sind ihre Wangen feucht. »Eine gute Nachricht«, sagt er. Sie weinen zusammen vor Erleichterung, Erschöpfung und Freude und beschließen, zur Feier des Tages im Taj Mahal Hotel zu Abend zu essen.
Die Flasche Wein, die sie bestellt haben, ist erst halb leer, doch Somer ist schon beschwipst und spricht zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Indien aus, was sie stört. Sie gibt zu, wie sehr das Adoptionsverfahren sie frustriert hat, wie auffällig sie sich als Ausländerin fühlt, wie isoliert von ihm und seiner Familie. Krishnan hört zu und nickt, schenkt sich Wein nach und bestellt dann einen Scotch und schließlich einen zweiten. Er war besorgt gewesen, wie Somer in Indien klarkommen würde, und es ist noch schlimmer gekommen, als er befürchtet hatte. Erzwingt sich zuzuhören, und obwohl sie ihm keine Vorwürfe macht, fühlt er sich trotzdem schuldig. Er hat schon lange gewusst, dass diese Abrechnung kommen würde.
Damals im Studium verschwieg er seinen Eltern selbst dann noch seine Beziehung zu Somer, als sie längst fest zusammen waren. Sie wären nie auf den Gedanken gekommen, ihn nach einer Freundin zu fragen: Schließlich sollte er außerhalb des Studiums keine Interessen haben, schon gar keine romantischen. Indem er abwartete, so redete er sich ein, könnte er Somer darauf vorbereiten, seine Familie kennenzulernen: ihr ein paar Wörter Gujarati beibringen, sie mit dem Essen bekannt machen. Aber in Wahrheit erzählte er ihr nicht viel von seinem Leben in Indien. Sie war schließlich durch und durch Amerikanerin, und er war unsicher, wie sie reagieren würde, wenn sie hörte, wie es so in einer Großfamilie zuging oder dass schon mal Tauben ins Wohnzimmer geflogen kamen, weil im Sommer die Fenster ständig geöffnet waren. Diese Liebe war für ihn neu und berauschend, und er wollte sie nicht aufs Spiel setzen. Um diese beiden Sphären seines Lebens zusammenzubringen, wären eine gemeinsame Anstrengung und mehr Mut erforderlich gewesen, als er mit fünfundzwanzig aufbrachte. Wie sich herausstellte, war es sehr viel weniger anstrengend, beide Sphären getrennt zu halten.
Er hoffte auf das Einverständnis seiner Eltern, aber wenn er zwischen ihrer Zustimmung und Somer wählen müsste, würde er sich für Somer entscheiden. Er liebte sie so, wie er nie eine Frau lieben könnte, die seine Eltern für ihn ausgesucht hätten – sie war ihm intellektuell ebenbürtig, und sie hatten gemeinsame Erfahrungen gemacht. In Indien war eine solche Beziehung
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