Geheime Versuchung
Lebendige blaugrüne Augen, eine golden gebräunte Haut und breite Schultern – stark und jung sah er aus, wunderbar lebendig. Doch ein dominanter Wolf würde lieber die Zähne zusammenbeißen, als eine Schwäche zuzugeben. Deshalb drängte sie ihn nicht weiter, sondern schlug einen lockeren Ton an. »Die meisten Gestaltwandler müssen sich erst mit ihrer Sterblichkeit auseinandersetzen, wenn sie dafür bereit sind.« In Tais Alter glaubten Männer und Frauen gleichermaßen, sie seien unverwundbar, und so sollte es auch sein. »Du bist früh dazu gezwungen worden.«
Tai starrte auf den Wasserfall hinunter. Sie dachte schon, er würde sich einfach weigern, darüber zu sprechen. Dagegen konnte sie wenig tun, obwohl sie eine höhere Stellung einnahm. Doch bei einem so willensstarken Wolf wie Tai würde ihr das nichts nutzen. Er musste selbst entscheiden, ob er sich ihr anvertrauen wollte.
»Weißt du, was mich am meisten bekümmert hat, als ich den Schlag auf den Kopf bekam?«, fragte er fast zehn Minuten später. »Und als mir klar wurde, dass ich vielleicht nicht lebend rauskomme?«
Mit einem stillen Seufzer schüttelte Lara den Kopf. »Was denn?«
»Dass ich nie wieder einen dummen Streit mit Evie ausfechten könnte.« Er sah sie mit einem schiefen Grinsen an, und aus dem gut aussehenden Jüngling wurde plötzlich ein schöner Mann. »Blöd, was?«
Ihre Sorgen schwanden, denn Tai klang nicht verbittert. »Magst du den Streit oder das, was danach kommt?«
Er lächelte über das ganze Gesicht. »Darüber spricht ein Gentleman nicht.« Das Lächeln verschwand, und sie sah etwas in seinen Augen aufscheinen, das sie daran erinnerte, dass Hawke vor ungefähr zwei Jahren zu ihr gesagt hatte, Tai habe das Zeug zum Offizier. Dann blickte der Wolf wieder auf den schäumenden Wasserfall. »Es gibt so viel, was ich in meinem Leben noch tun möchte, aber Evie steht ganz oben auf jeder Liste, seit dem Tag, als ich gemerkt habe, dass wir keine Welpen mehr sind.«
Evie hing mit der gleichen Hingabe an Tai. »Du hast dir aber viel Zeit gelassen, ehe du etwas unternommen hast«, sagte Lara und dachte an den Mann, der ebenso beständig in seiner Liebe war, vollkommen sicher … doch mit einer Leidenschaft, die immer stärker wurde.
»Ich musste erst genug Mut fassen, um Indigo standhalten zu können«, murrte Tai. »Als ich Evie das erste Mal auch nur angeschaut habe, hat mich ihr eiskalter Blick erwischt, und alles hat sich in mir zusammengezogen.«
Die Offizierin war Evies ältere und sehr beschützende Schwester. Lara lachte und stupste Tai mit der Schulter an. »Lügner. Ich wette, du hast dich schon mit Evie fortgeschlichen, ehe jemand das mit euch überhaupt aufgefallen ist.«
Die Antwort war ein sehr selbstzufriedenes Lächeln.
»Es geht mir wirklich gut, Lara«, sagte Tai. »Ich weiß ja, dass die meisten in meinem Alter noch nicht über den Tod und so was nachdenken, doch in meiner Generation hatten wir keine Wahl. Wir wurden kurz vor oder kurz nach dem Gewaltausbruch geboren.«
Die durch ein hässliches »Experiment« der Medialen hervorgerufenen heftigen Kämpfe im Rudel hätten die SnowDancer-Wölfe beinahe vernichtet. Viele waren gestorben, viele Welpen hatten Vater oder Mutter verloren, waren im schlimmsten Fall zu Vollwaisen geworden. Tais Eltern lebten noch, doch auch er hatte Verluste hinnehmen müssen – sein Onkel, der beste Freund seines Vaters, eine Cousine der Mutter, die Rekrutin gewesen war, und so weiter. Natürlich kannte er den Tod.
»Hat das … dein Leben irgendwie …«
Instinktiv legte der dominante Wolf den Arm um sie, um sie zu trösten, und zog sie an sich. »Du weißt doch, was für Scheiße wir gebaut haben, als wir noch jünger waren.« Sein Grinsen war ansteckend. »Wir waren weder traumatisiert noch starr vor Angst. Wir sind stolz aufgewachsen, denn die Wölfe haben nicht nur überlebt, sondern es auch ihren Feinden heimgezahlt, indem wir so stark geworden sind, dass sie uns fürchten müssen.«
Lara dachte an den jugendlichen Tai, dem die Mütter gerne die Ohren lang gezogen hatten, und ein Knoten in ihrem Magen löste sich. »Hast du mit Evie darüber gesprochen?« Selbst wenn er viel über den Tod nachgedacht hatte, war die Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit doch ein harter Schlag, und er brauchte eigentlich jemanden, mit dem er darüber sprechen konnte.
Tai knurrte. »Glaubst du, sie hat mir eine Wahl gelassen? Von wegen unterwürfig, du meine Güte.«
Laras Lippen
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