Geheimnis des italienische Grafen
herüberschaute. „O ja, Conte di Fabrizzi! Wie der Held eines Romans kommt er mir vor. So schneidig, und dieses schöne schwarze Haar! Niemals redet er über die Jagd und Kricket, wie die englischen Gentlemen. Alle meine Freundinnen schwärmen für ihn.“
Thalia lächelte ironisch. Begreiflicherweise waren sämtliche junge Damen von Marco hingerissen. So wie ich … „Also gefällt Ihnen der Conte, Lady Anne?“
„Natürlich!“ Das Mädchen errötete und kicherte wieder. „Aber er gönnt mir keinen Blick. Und meinen Freundinnen auch nicht. Dauernd scharwenzelt er um die Viscountess Riverton herum. Obwohl sie schon so alt ist! Das verstehe ich nicht.“
Auch Thalia verstand es nicht. Noch nicht. „Wird in Bath sehr viel über den Conte geredet?“
„ Ständig tuscheln die Leute über ihn. Aber niemand scheint wirklich irgendwas über ihn zu wissen. Ist das nicht sonderbar?“
„Gerade wegen dieser geheimnisvollen Aura wirkt er so faszinierend.“
Noch mehr Gekicher.
O Gott, dachte Thalia, bin ich jemals so dumm gewesen wie dieses Mädchen? Wenn ja, war es verständlich, dass Clio und Callie mich damals nicht in ihrem Schlepptau haben wollten … Wenigstens war ihre fünfzehnjährige Schwester Cory mit ihren künstlerischen Ambitionen beschäftigt und würde sich niemals so töricht benehmen.
„Jetzt können Sie’s selber sehen, Miss Chase“, wisperte Lady Anne, als die Salontür aufschwang. „Da ist er endlich. Oh, Mama wird so glücklich sein!“
„Ziemlich spät für meinen Geschmack“, murmelte Thalia. „Glauben Sie, das ist eine italienische Sitte?“
„Oh, Miss Chase, wie können Sie so ruhig sein? Allein schon sein Anblick raubt mir den Atem. Wenn er mich anspricht, würde ich in Ohnmacht fallen.“
Ja, ich auch, dachte Thalia und starrte über den Notenständer zu Marco hinüber. Lady Grimsby erhob sich von ihrem Spieltisch. In einer Wolke aus bernsteinfarbener Seide eilte sie zu ihrem neuen Gast und begrüßte ihn freudestrahlend. Marco beugte sich über ihre Hand und schenkte ihr sein traumhaftes Lächeln.
Weil Lady Anne vergaß, die nächste Seite umzublättern, wechselte Thalia zu einem Divertimento von Mozart über, das sie auswendig kannte. Wie von selbst glitten ihre Hände über die Tasten. Die musste sie gar nicht sehen, und so konnte sie – wie alle anderen Damen – den Conte beobachten, der durch den Salon schlenderte.
In ihren Gedanken war sie den ganzen Tag bei ihm gewesen, und deshalb kam es ihr beinahe so vor, als hätte sie sich gar nicht von ihm getrennt. Während er mit der Gastgeberin lachte – so attraktiv, so sonnig und charmant –, fühlte Thalia sich wie eine Närrin, weil sie ihm so dunkle Machenschaften zutraute und ihn unlauterer Beweggründe verdächtigte.
Aber dann trafen sich ihre Blicke, und ein Schatten glitt über sein Gesicht wie eine Sturmwolke. In der nächsten Sekunde lächelte er wieder. Vielleicht hatte sie sich die düstere Miene nur eingebildet. Fast unmerklich hob er eine Braue und nickte ihr zu. Dann wandte er sich ab.
Erst jetzt merkte sie, wie lange sie den Atem angehalten hatte, und rang nach Luft. Blindlings starrte sie auf die Klaviertasten hinab, auf ihre Hände.
Als sie sicher war, ihr würde wieder ein unbefangenes Lächeln gelingen, hob sie den Kopf. Jetzt saß Marco zwischen Lady Grimsby und Mrs Smythe-Moreland auf einem Sofa bei den Fenstern. Keine Spur von Lady Riverton. War er allein hierhergekommen?
Calliope schaute über die Spielkarten in ihrer Hand zum Pianoforte hinüber, und Thalia lächelte in einem fort. Hoffentlich wirkte sie halbwegs normal, nicht wie eine Verrückte, aus der Irrenanstalt entflohen. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sollte sie vorsichtig sein und Marco vergessen, so wie er es ihr empfohlen hatte? Oder sollte sie ein kühnes Wagnis eingehen?
Am Ende des Mozart-Divertimentos ließ sie die Hände von der Tastatur sinken und nahm den Applaus entgegen.
„Das war sehr schön, Miss Chase“, lobte Lord Grimsby. „Werden Sie uns noch einen musikalischen Genuss bieten?“
„Jetzt bin ich zu müde, Lord Grimsby. Aber ich würde Ihre Tochter sehr gern spielen hören. Wie mir versichert wurde, ist sie sehr begabt.“
Thalia überließ ihren Platz der errötenden Lady Anne. Bevor sie sich entfernte, riss sie unbemerkt den Rand eines Notenblatts ab. Dann benutzte sie einen der kleinen Bleistifte, die auf einem Spieltisch lagen, kritzelte ein paar Worte und wanderte an dem Sofa vorbei, wo Marco die
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