Geheimnis des Verlangens
Tanya sie vom Deck aus beobachtete, fragte sie sich, ob Stefan noch immer wütend auf sie war. Wahrscheinlich hatte sein Zorn sich nicht gelegt, denn Lazar und Serge begleiteten sie hinunter zu der Kutsche, und nur sie stiegen mit ihr ein. Stefan sah nicht einmal in ihre Richtung, was ihr durchaus recht war, da sie wieder ihre eigenen schäbigen Kleider angezogen hatte, nur um ihn noch mehr zu ärgern. Aber jetzt bedauerte sie es schon. Von Vasili war nichts zu sehen, und das war auch gut so, denn sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Haarnadeln zu benutzen, die er ihr unter einigen Schwierigkeiten besorgt hatte — und damit war sie in ihrer Verärgerung wohl einen Schritt zu weit gegangen.
Sie würden sie nun wohl in ein Hotel bringen, wie in jener letzten Nacht in Natchez, dachte Tanya, und nahm sich vor, dort etwas gegen den schlimmen Zustand, in den sie sich gebracht hatte, zu unternehmen. Sie wollte ihr Aussehen ein wenig verbessern, bevor sie ihren übelsten Widersachern erneut unter die Augen trat und ihre geringschätzigen Bemerkungen über sich ergehen lassen musste . Sie war daher alles andere als erfreut, als sie herausfand, dass sie nur ein kurzes Stück fuhren, den Kai entlang zu einem anderen Boot, oder eigentlich einem Schiff, denn dies war eindeutig ein Ozeandampfer.
Sie hatte nicht einmal Zeit zu hoffen, dass sie aus irgendeinem Grund nur kurz anhielten, dass dies nicht ihr eigentliches Ziel war, weil der verschollene Vasili sich auf dem Schiff befand. Er stand oben an der Laufplanke und wartete auf sie. Als sie ihn erreichte, hob er eine Locke ihres Haares auf und schnalzte lediglich mit der Zunge. Für diesen Schurken mit seiner rasierklingenscharfen Zunge war dies gewiss ein milder Tadel.
»Willkommen an Bord der Karpathia, Prinzessin.«
»Wann wird sie in See stechen?«
»Sobald der Rest der Mannschaft gefunden ist. Schließlich konnten die Leute nicht vorhersehen, wann wir endlich ankommen würden.«
Obwohl er diese Entschuldigung immerhin einräumte, hörte sie doch den Ärger aus seiner Stimme heraus. Als ob die Mannschaft hellseherische Fähigkeiten hätte haben sollen — oder wenigstens soviel Vernunft, an Bord des Schiffes auszuharren. Aber Tanya war es von ganzem Herzen egal, dass er wieder einmal seine Arroganz unter Beweis stellte. Sie war zu sehr damit beschäftigt, ihre Überraschung zu verbergen. So viel zu der Garderobe, die man ihr versprochen hatte.
»Mein erster Besuch in New Orleans, und ich soll es nicht einmal zu sehen bekommen?«
Vasili zuckte nur mit den Augenbrauen. » Wusste Stefan davon, dass Ihr diesen Wunsch hattet?«
»Als ob das einen Unterschied gemacht hätte«, wollte sie verächtlich bemerken, aber alles was sie sagte, war: »Nein.«
»Wenn Ihr ihm Eure Wünsche in Zukunft vielleicht mitteilen würdet... Aber in diesem Fall muss die Zeit den Ausschlag geben, besonders da wir schon so viel Zeit verschwendet haben, lediglich um Euch ausfindig zu machen.«
Sie war verblüfft darüber, dass er ihre verschiedenen Fluchtversuche nicht erwähnte, die sie erst kürzlich entscheidend aufgehalten hatten. Dass Stefan ihren Wünschen Folge leisten könnte, war etwas, das ihrer Meinung nach keine weitere Überlegung verdiente.
»Werde ich diesmal wenigstens eine Kabine für mich allein haben?« fragte sie.
Er ignorierte diese Frage, um selbst eine zu stellen: »Ihr habt meinen Rat bisher noch nicht befolgt, nicht wahr?«
»Welchen Rat?«
»Stefans Zuneigung zu suchen.«
»Zuneigung? Ah, ich erinnere mich — und Eure Empfehlung bezog sich darauf, dass ich sein Interesse kultivieren solle statt seines Zorns.«
»Sein Interesse habt Ihr bereits, Prinzessin. Euch wäre besser gedient, wenn Ihr auch seine Zuneigung erlangen würdet.«
»Ihr werdet mir vergeben, wenn ich das für ein unmögliches Bestreben halte.«
»Euch vergeben?« fuhr er sie an. »Nein, weil ich nämlich sehen kann, dass Ihr es nicht einmal versucht.«
»Warum sollte ich auch?« verlangte sie zu wissen. Allmählich wurde sie genauso wütend, wie er es plötzlich war.
»Für Euch selbst, für uns alle, für Euer eigenes Glück.«
Ihre grünen Augen weiteten sich in gespielter Überraschung, aber dann ruinierte sie die Wirkung mit der spöttischen Frage: »Soll ich etwa glauben, mein Glück läge Euch am Herzen?«
»Stefans Glück liegt mir am Herzen; Ihr könnt meinetwegen zum Teufel gehen.«
»Ach, und dabei dachte ich, da wäre ich schon«, gab sie zurück. Aber dann seufzte sie.
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