Geheimnis Um Mitternacht
von ihrem Vater erzählt hatte. Denn diese Geschichten teilte sie gewöhnlich mit niemandem. Sie war sich nicht sicher, warum es so leicht war, mit ihm darüber zu sprechen - vielleicht weil er die Bösartigkeit ihres Vaters selbst erlebt hatte oder weil sein Leben so viel rauer gewesen war als das irgendeiner anderen Person, die sie kannte. Oder weil sie fühlte, dass all ihre Geheimnisse bei ihm sicher waren. Trotzdem fragte sie sich unwillkürlich, ob er sie jetzt anders betrachten würde. Männer mochten keine Frauen, die zu viel von den dunkleren Seiten des Lebens wussten.
Gideon blieb stehen, nahm ihren Arm und drehte sie zu sich. „Nicht alle Männer sind wie dein Vater. Viele schätzen ihre Frau. Sie behandeln sie mit großer Umsicht, sogar Zärtlichkeit."
„Ich bin kein kostbares Juwel, das umsorgt und in feine Seide gepackt werden muss", sagte Irene direkt. „Kein Mann würde das glauben, und selbst wenn er dumm genug wäre, es zu denken, kann ich dir versichern, dass ich ihn bald eines Besseren belehren würde. Vermutlich wäre ich ihm eher ein Dorn im Auge."
Sie machte Anstalten weiterzugehen, aber er hielt sie fest und sagte mit ausdrucksloser Stimme: „Verwechsel mich nicht mit deinem Vater. Oder mit anderen Männern."
Irene hob den Blick und sah ihn offen an. Ihre Augen glänzten golden in der Nächmittagssonne. „Das tue ich nicht.
Aber wenn ich mich irrte, wüsste ich es erst, wenn es zu spät wäre. Ich versichere Ihnen, Sir, ich werde meine Meinung nicht ändern. Ich kann Sie nicht heiraten."
Wenig später verabschiedete sie sich von Gideon. Er ritt weiter, um seine Pachthöfe zu besuchen, und sie ging zurück zum Haus, ein wenig überrascht über ein vages Gefühl der Traurigkeit, das sie überfiel. Sie war sich sicher, dass sie dieses Mal zu ihm durchgedrungen war. Er würde sein Werben aufgeben und sein Interesse den anderen Frauen zuwenden, die nächste Woche eintreffen würden. Sie sollte erleichtert sein, sagte sie sich, nicht niedergeschlagen.
Doch trotz all ihrer Bemühungen schien sich ihre gedrückte Stimmung nicht bessern zu wollen. Fast den ganzen Nachmittag verbrachte sie auf ihrem Zimmer und starrte unzufrieden aus dem Fenster. Irgendwie musste sie doch in eine mädchenhafte Fantasie von Liebe gerutscht sein. Warum sonst hatte sie Francesca und den anderen erlaubt, sie zu überreden, diese attraktiven neuen Kleider zu kaufen? Warum sonst hatte sie zugestimmt, nach Radbourne Park zu kommen? Warum sonst hatte sie Maisie erlaubt, ihre Frisur zu ändern?
Nun, jetzt sah die ganze Sache anders aus. Heute Nachmittag hatte sie die Dinge zwischen Gideon und sich klargestellt. Und heute Abend würde sie ihr Haar tragen wie all die Jahre zuvor, und sie würde eines ihrer älteren Kleider zum Diner anziehen. Sie hatte das Richtige getan und würde bald wieder ihre übliche gute Laune wiederfinden.
Wie geplant wählte sie ein braunes Kleid aus Bombasin, dass nur mit ein wenig Spitze am Kragen und an den Manschetten aufgelockert worden war. Maisies Angebot, ihr Haar wie am letzten Abend zu frisieren, lehnte sie ab.
Sie ging auch nicht wieder zu früh hinunter, sondern wartete stattdessen, bis sie hörte, dass Francesca ihr Zimmer verließ, und schloss sich ihr an. Auf diese Weise verhinderte sie, dass sie Gideon allein begegnete, bevor sie alle zum Essen hineingingen. Sie wusste, dass sie dort weit genug von ihm entfernt sitzen würde, sodass sie nicht mit ihm sprechen müsste.
Das Diner schien sich wegen des auffälligen Mangels an Konversation endlos hinzuziehen. Nur Lady Odelia fand wie üblich etwas, worüber sie reden konnte, wenn sie es wollte.
Als das Essen beinahe beendet war, erhob Gideon jedoch seine Stimme und überraschte damit alle, da er sich bisher noch nicht an der Unterhaltung beteiligt hatte. „Großmutter, ich wollte dir sagen, dass ich einen weiteren Gast zu der Gesellschaft nächste Woche eingeladen habe."
Irene sah keinen Grund, wegen seiner Bemerkung schockiert zu sein, aber seine Worte schienen sowohl die beiden Ladys Radbourne als auch Lady Pencully zu erschüttern. Alle drei wandten sich ihm zu und sahen ihn mit großen Augen und offenen Mündern an.
„Ich bitte um Entschuldigung?", sagte Lady Odelia schließlich.
„Ich habe einen meiner Freunde eingeladen, sich uns nächste Woche anzuschließen. Piers Aldenham. Die Gesellschaft hat ein ziemliches Überangebot an Damen. Es schien mir eine gute Idee, einen weiteren Mann dazu zu bitten. Schließlich
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