Geheimnis von St. Andrews
ermordet? Gibt es irgendwelche Spuren?“
„Das wissen wir bislang nicht. Die Kriminaltechniker arbeiten noch daran, das herauszufinden. Fest steht, dass es in der vergangenen Nacht in Pittstown und Umgebung sehr stark geregnet hat. Falls das Opfer unter freiem Himmel erwürgt wurde, wird es sehr schwer sein, Hinweise auf den Täter zu finden. Das wäre zunächst alles, Miss Wynn. Bitte schicken Sie mir Mark Gilmore als nächsten Zeugen. Sollte Ihnen noch etwas einfallen, rufen Sie mich bitte an. Jede Kleinigkeit kann wichtig sein.“
Inspektor Abercrombie gab Cherry eine seiner Visitenkarten. Trotz des makabren Anlasses empfand Cherry einen Moment lang fast so etwas wie Stolz. Sie kam sich sehr wichtig vor, weil sie Zeugin in einem Mordfall geworden war. Doch im nächsten Augenblick musste sie stumm über sich lachen. Was hatte sie denn schon auszusagen? Genau genommen gar nichts! Cherry schämte sich ein wenig, als sie an das tragische Schicksal der Toten dachte. Die Frau war nicht älter als sie selbst gewesen und hatte ihre Zukunft vor sich gehabt. Natürlich war auch das Ende von Mrs Warren bedauerlich, doch die Seniorin war nach einem langen Leben wenigstens friedlich eingeschlafen. Das konnte man von der Erwürgten nicht behaupten. Durch einen brutalen Mörder war sie kaltblütig aus der Welt herausgerissen worden.
Und noch hatte die Polizei keine Spur von dem Täter.
Cherry verließ das Pfarrhaus und ging zurück zur Leichenhalle, um Mark Bescheid zu geben. Auf dem kurzen Weg dorthin wirbelten ihr die unterschiedlichsten Gedankenfetzen durch den Kopf. Ob es ein Fehler gewesen war, überhaupt nach Pittstown zu kommen? Blackburn und sein Helfer Sam Lonnegan hatten sie nicht gerade mit offenen Armen empfangen. Aber die Arbeit selbst konnte spannend und abwechslungsreich werden. Die Legende, von der Mark ihr erzählt hatte, stachelte Cherrys Neugier auf die geheimnisvolle alte Kirche zusätzlich an.
Doch Mark war der Hauptgrund, der gegen eine vorzeitige Rückkehr nach London sprach. Daran hatte Cherry nämlich auch schon gedacht, vor allem seit dem Leichenfund und nachdem sie das Phantombild des Suffolk-Killers gesehen hatte. Allein die Vorstellung, dass dieser Kerl sie angreifen könnte, ängstigte sie – und das, obwohl sie eine trainierte Karatekämpferin war.
Ihr Professor würde nicht begeistert sein, wenn sie das Praktikum einfach abbrach. Aber er konnte sie deshalb nicht von der Uni werfen. Schlimmstenfalls würde sie ein Semester länger studieren müssen.
Aber wenn Cherry sich in den Zug setzte, würde sie Mark wahrscheinlich niemals wiedersehen. Und sie spürte deutlich, dass sich etwas zwischen ihnen entwickeln konnte. Nach ihren schlechten Erfahrungen mit dem Frauenhelden Tony Sanders, den sie von der Uni kannte, glaubte Cherry nicht an die Liebe auf den ersten Blick. Doch hatte sie sich noch nie mit einem Menschen auf Anhieb so gut verstanden wie mit Mark. Außerdem war sie beeindruckt davon, dass er als Zimmermann in Afrika Entwicklungshilfe geleistet hatte. Sie hatte es immer schon großartig gefunden, wenn jemand etwas riskierte, um anderen Menschen zu helfen. Mark war für sie ein interessanter Typ – und das nicht nur, weil er verdammt gut aussah …
Cherry musste sich zusammenreißen, als sie auf ihn zuging. Sie wollte ihn nicht zu offensichtlich anhimmeln, weil sie das affig fand. Außerdem sollte er nicht glauben, bei ihr leichtes Spiel zu haben. Dabei hielt sie ihn nicht für einen Jungen, der eine Situation einfach eiskalt ausnutzte.
„Der Inspektor will jetzt mit dir quatschen“, sagte sie betont lässig. Mark nickte und löste sich von der Wand, gegen die er sich gelehnt hatte.
„Alles klar. Sehen wir uns später auf der Baustelle? Ich weiß ja nicht, wie dein Praktikum abläuft, aber ich könnte dir einiges zeigen.“
„Ich werde Blackburn fragen, wann ich kommen soll. Aber zuerst möchte ich mein Gepäck in meine Pension bringen.“
Mark nickte und ging zum Pfarrhaus, um dort seine Aussage zu machen. Cherry wandte sich der Kirche zu, wo sie ihre Reisetasche zurückgelassen hatte. Ihr Zimmer in einer preiswerten Frühstücks-Pension hatte sie über das Internet gebucht. Mit einem kurzen Seitenblick stellte sie fest, dass Father Nolan und Harris Blackburn immer noch mit den aufgeregten Angehörigen von Mrs Warren redeten. Nur Sam Lonnegan war wie vom Erdboden verschluckt. Vielleicht machte er ja Mittagspause. Cherry konnte sich bei diesem Kerl nicht vorstellen, dass
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