Geheimnis von St. Andrews
als Father Nolan das in Schweinsleder gebundene alte Buch vor ihr auf den Tisch legte. Sie traute sich nicht, es anzufassen, denn ihre Hände waren von der Arbeit immer noch staubig.
„Siehst du, Cherry? Hier sind die seltsamen Zeichen.“
Der Geistliche hatte das Buch an der passenden Stelle aufgeschlagen. Davor und dahinter fanden sich Einträge in altertümlichem Englisch, die trotz der geschwungenen Schrift noch halbwegs gut lesbar waren. Aber der kurze Absatz aus der Feder von Father Nolans Amtsvorgänger war komplett unverständlich.
„Hochwürden – darf ich diese Seite abfotografieren?“
„Gewiss, warum nicht?“
Cherry griff zu ihrer Handykamera und machte eine Aufnahme, bevor der Seelsorger es sich anders überlegte. Noch während sie das Bild machte, musste sie still über sich selbst lachen. War sie eigentlich größenwahnsinnig geworden? Glaubte sie im Ernst, ein Rätsel lösen zu können, an dem sogar Dechiffrierexperten gescheitert waren? Cherry wusste nicht, ob ihr das tatsächlich gelingen würde, aber sie würde alles versuchen, um das Geheimnis zu lüften.
Rätsel der Vergangenheit hatten Cherry immer schon fasziniert. Das war auch ein Hauptgrund gewesen, warum sie mit dem Studium der Kunstgeschichte angefangen hatte. Viele Leute glaubten, dass die Dinge aus der Vergangenheit verstaubt und altmodisch wären. Doch Cherry war vom Gegenteil überzeugt. Die damaligen Menschen hatten genauso geliebt und gehasst, wie man es auch heute noch tat. Es gab kein Internet, sondern man war auf berittene Boten angewiesen. Aber das war nach Cherrys Meinung auch schon der größte Unterschied zwischen dem 15. und dem 21. Jahrhundert. Sogar heute gab es Machtkämpfe, denen Unschuldige zum Opfer fielen. Und falls es dieses Gruftgold wirklich gab, dann würde es einen Menschen der Gegenwart auf einen Schlag steinreich machen.
Cherry bedankte sich bei dem Geistlichen und kehrte dann schnell wieder zu ihrer Arbeit zurück, um Blackburn keinen neuen Anlass zum Meckern zu geben. Sie wollte den Bogen nicht überspannen, sonst warf er sie am Ende noch wirklich hinaus.
Cherry spürte ihre Nervosität. Schließlich passierte es ihr nicht jeden Tag, dass sie eine Ermordete zu sehen bekam und wenig später jemand versuchte, sie mit einem schweren Balken zu erschlagen. Das Leben in Pittstown schien doch nicht so langweilig zu sein, wie sie zunächst befürchtet hatte.
Cherry widmete sich wieder den Schmirgelarbeiten. Gegen Abend kam Blackburn aus der Krypta hoch. Er war übellaunig wie immer, doch an ihrer Tätigkeit hatte er nichts auszusetzen.
„Nicht schlecht für den Anfang, Miss Wynn. Vielleicht sind Sie ja doch nicht ganz so unbegabt, wie ich befürchtet hatte. Sie können für heute Schluss machen, wir sehen uns dann morgen früh hier in St. Andrews.“
„Danke, Sir“, erwiderte Cherry. Für Blackburns Verhältnisse waren seine Worte schon beinahe ein Kompliment. Ob der alte Griesgram sich doch allmählich an sie gewöhnte? Sie hatte einmal gehört, dass viele Genies unausstehlich wären. Wenn diese Annahme stimmte, musste Blackburn wirklich ein erstklassiger Restaurator sein. Und das war er ja auch angesichts der vielen internationalen Auszeichnungen, die er schon bekommen hatte.
Cherry war erschöpft, schmutzig und verschwitzt. Sie freute sich auf eine heiße Dusche. Per SMS hatte sie mit Mark abgemacht, dass er sie eine Stunde später in ihrer Pension abholen würde. Ihr blieb also genug Zeit, um sich zu stylen.
Plötzlich bekam Cherry gute Laune. Sie freute sich auf den Abend mit Mark. Doch als sie die Pension von Thelma Miller schon fast erreicht hatte, wurde sie plötzlich am Arm gepackt und in einen Hauseingang gezerrt.
Sie fürchtete schon, den Suffolk-Killer vor sich zu haben. Das Phantombild von dem unheimlichen Kerl würde sie wohl niemals vergessen. Doch stattdessen stand Cherry einer etwa gleichaltrigen Frau gegenüber, die kaum größer war als sie. Die Unbekannte hatte eigentlich ein hübsches Gesicht, das von einem coolen Fransenschnitt umrahmt wurde. Doch sie schaute so finster und drohend, dass ihre Schönheit darunter litt.
„Spinnst du?“, schimpfte Cherry, während sie sich loszureißen versuchte. „Was soll das?“
„Was das soll? Du machst dich an meinen Freund heran und spielst jetzt die Unschuldige? Wie krank ist das denn?“
„Dein Freund?“, hakte Cherry nach. Einen Moment lang kapierte sie gar nichts. Aber dann verstand sie, worum es ging. „Ah, du musst Jenny
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