Geheimnis von St. Andrews
Es kommt mir so vor, als ob der Herr die bösen alten Zeiten wieder anbrechen lässt, um unseren Glauben zu prüfen.“
„Was für ‚böse alte Zeiten‘ meinen Sie, Hochwürden?“
„Ich spreche vom Bürgerkrieg zwischen den Männern der roten und der weißen Rose.“
„Mark hat mir davon erzählt. Damals soll sich dieser Sir Geoffrey Stowe mit seinem Gold in der Kirche versteckt haben. Es wurde niemals gefunden, obwohl seine Feinde von der weißen Rose das Unterste zuoberst gekehrt haben.“
„Es war eine grausame Zeit. Bis heute ist völlig unklar, ob es dieses sogenannte Gruftgold überhaupt gibt oder ob es nur eine märchenhafte Legende ist. Dabei existiert sogar ein Beweis dafür. Nur kann ich damit leider nichts anfangen. Vielleicht möchte Gott auch gar nicht, dass dieses Geheimnis jemals gelüftet wird.“
„Ich verstehe nicht, wovon Sie reden, Hochwürden“, erwiderte Cherry irritiert.
Der Pfarrer, der auf einer Kirchenbank saß, beugte sich vor und senkte ein wenig seine Stimme. Doch scheinbar war außer Cherry niemand in der Nähe, der ihn hören konnte.
„Hat Mark dir auch berichtet, dass mein damaliger Amtsvorgänger von den Aufständischen der weißen Rose ermordet wurde?“
„Ja. Das tut mir leid, Hochwürden. Diesen Kerlen war noch nicht einmal ein Mann des Glaubens heilig.“
„Das stimmt leider. Wie gesagt, es war eine grausame Zeit. Aber mein Vorgänger – er hieß Father Stephens – muss geahnt haben, was für ein Schicksal ihm bevorstand. Vielleicht hatte er auch eine göttliche Eingebung, das wird sich nach so vielen Jahrhunderten wohl nicht mehr klären lassen. Auf jeden Fall schrieb er in das Kirchenbuch, wo Sir Geoffrey Stowe und dessen Satteltaschen abgeblieben waren. Und in diesen Satteltaschen soll sich ja der legendäre Schatz befunden haben.“
„Und das steht in einem Kirchenbuch, Hochwürden? Dort, wo Taufen, Eheschließungen, Bestattungen und anderes notiert sind?“
„Richtig, Cherry. Ein Kirchenbuch soll normalerweise solche Ereignisse für die Nachwelt festhalten. Mein Amtsvorgänger machte sich vermutlich keine Illusionen darüber, was die Feinde von Sir Geoffrey Stowe mit ihm vorhatten. Deshalb schrieb er auf, was mit dem Flüchtenden geschah.“
„Aber dann ist es doch kein Geheimnis mehr, oder?“
„Doch, denn Father Stephens verwendete eine Symbolschrift, deren Bedeutung nur er selbst kannte.“
Cherry kniff die Augen zusammen. Sie konnte kaum glauben, was der Geistliche ihr erzählte. Doch Father Nolan würde sie gewiss nicht auf den Arm nehmen.
„Und diese Geheimschrift – sie ist in all den Jahren niemals entschlüsselt worden?“, fragte sie.
Der Pfarrer hob die Schultern. „Mir ist es beim besten Willen nicht gelungen. Aber es hat immer wieder Anläufe gegeben, das Rätsel zu lösen. Zuletzt hat sogar ein Chiffrierexperte des Geheimdienstes sein Glück versucht – vergeblich. Ich nehme an, es ist einfach nicht Gottes Wille, dass dieses Geheimnis gelüftet wird. Und außerdem: Wer immer dieses sogenannte Gruftgold findet, müsste es an die Nachfahren von Sir Geoffrey Stowe zurückgeben. Denn sie sind die rechtmäßigen Erben.“
„Dann wurde also die Familie während der Kämpfe nicht ausgerottet?“
„Sir Geoffreys direkte Verwandte schon, aber ein Neffe im fernen Sheffield hat überlebt. Seine Blutlinie wurde bis heute fortgeführt.“
Cherry war während des Gesprächs mit dem Geistlichen immer aufgeregter geworden. So spannend hatte sie sich ihr Kunstgeschichtsstudium nicht vorgestellt. Ihre Neugier war kaum noch zu bezwingen. Father Nolan schien zu spüren, was in ihr vorging. Verständnisvoll lächelte er sie an.
„Würdest du dir das Kirchenbuch gerne einmal anschauen, Cherry?“
„Sie würden mir tatsächlich die geheimnisvolle Schrift zeigen?“, fragte sie erstaunt. Von mysteriösen Dingen war Cherry schon immer fasziniert gewesen.
„Sicher, warum nicht? Für mich ist diese ganze Sache gewiss nicht halb so interessant wie für dich. Ich habe nur den Wunsch, dass wieder Ruhe und Frieden in St. Andrews einziehen.“
Cherry war dankbar für die Unterbrechung ihrer eintönigen Arbeit. Sie folgte dem Geistlichen in das Pfarrhaus. Father Nolan öffnete in seinem Büro einen normalen Glasschrank, der nicht besonders gesichert zu sein schien. Aber weshalb auch? Das Kirchenbuch war vollkommen wertlos, wenn man die Bedeutung des Eintrags nicht entschlüsseln konnte.
Dennoch war Cherry total aufgeregt. Ihr Herz raste,
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