Geheimnis von St. Andrews
Weg war? Ihr fiel sofort Blackburn ein, der seiner neuen Praktikantin mit offenem Widerwillen entgegentrat. Doch ausgerechnet der Restaurator hatte ein erstklassiges Alibi. Er war in der Krypta gewesen, als das schwere Holz auf Cherry niederkrachte. Blackburn wäre von Cherry bemerkt worden, wenn er auf die Chorempore gestiegen wäre. Außerdem war der Täter nach draußen gelaufen, während Blackburn soeben aus der Krypta gekommen war.
Und Sam Lonnegan? Der muskulöse Arbeiter konnte Cherry offenbar auch nicht ausstehen, und er hatte sogar vor der Kirche gewerkelt. Doch gerade dadurch wurde er entlastet, denn Cherry hatte seine Werkzeuggeräusche die ganze Zeit gehört, auch während des Anschlags. Er konnte nicht gleichzeitig den Balken von der Chorempore stoßen und vor dem Kirchenportal mit Hammer und Meißel arbeiten.
Es blieb noch der mysteriöse Suffolk-Killer als Verdächtiger übrig. Cherry passte perfekt in sein Beuteschema, denn sie war eine junge Frau – genau wie die anderen Opfer. Aber sie waren stets nachts getötet und zudem noch erwürgt worden. Der Anschlag mit dem Balken passte überhaupt nicht in dieses Muster. Cherry hatte einmal gelesen, dass Serientäter meist nach einem selbst geschaffenen Schema vorgingen. So gesehen kam auch dieser unheimliche Verbrecher nicht infrage.
Die Polizisten, die sich als Sergeant Murdoch und Officer Hickey vorgestellt hatten, kehrten von der Chorempore zurück. Nun traf auch Father Nolan ein, der noch in der Leichenhalle mit den Hinterbliebenen von Mrs Warren gesprochen hatte. Er schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
„Was geschieht bloß in diesem altehrwürdigen Gotteshaus! Sind Sie schlimm verletzt, Miss Wynn?“, rief er besorgt.
„Nein, Hochwürden. Ich habe mir nur den Ellenbogen gestoßen.“
Sergeant Murdoch ergriff nun das Wort. Er war ein rotgesichtiger Mann und kratzte sich beim Sprechen die ganze Zeit im Nacken. „Das kann kein Unfall gewesen sein, Miss. Wir haben uns den Holzstapel angeschaut. Es ist nicht viel Kraft erforderlich, um einen Balken über die Balustrade zu schieben, damit er nach unten fällt. Aber von allein kann das keinesfalls geschehen sein.“
„Sind Sie sicher, Sergeant?“ Blackburns Stimme verriet, dass er völlig anderer Meinung war. „Aber wer sollte so etwas tun?“
Der Polizist zuckte mit seinen breiten Schultern. „Dieselbe Art von Idioten, die Steine von Autobahnbrücken werfen. Das sind auch sinnlose Taten, die sich nicht gegen eine bestimmte Person richten. Miss Wynn ist zufällig zum Opfer geworden.“
Das war natürlich möglich, aber Cherry glaubte nicht daran. Es musste mehr dahinterstecken. Aber da sie keinen konkreten Verdacht hatte, behielt sie ihre Zweifel lieber für sich.
„Zum Arzt muss ich jedenfalls nicht, denn mein Ellenbogen tut kaum noch weh. Ich würde jetzt lieber weiterarbeiten. Wir haben schon genug Zeit verloren.“
„Da sind wir ausnahmsweise einmal einer Meinung, Miss Wynn“, sagte Blackburn. Die Polizisten verabschiedeten sich, nachdem sie auch noch Father Nolan und den draußen arbeitenden Sam Lonnegan befragt hatten. Aber keiner von ihnen wollte etwas bemerkt haben. Dem Geistlichen glaubte Cherry, Blackburns Kompagnon hingegen nicht. Steckte Sam Lonnegan vielleicht mit dem geheimnisvollen Attentäter unter einer Decke? Aber welches Motiv sollte er haben, Cherry ins Jenseits zu befördern?
Oder gab es vielleicht einen Zusammenhang zwischen Cherry und der unbekannten jungen Toten aus der Leichenhalle? Aber was für einen? Cherry war sicher, diese Frau noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen zu haben.
Die wilden Spekulationen brachten sie nicht weiter. Es war wirklich besser, wenn sie sich wieder auf das Abschmirgeln des Beichtstuhls konzentrierte. Sie setzte erneut ihre Atemmaske auf, nachdem sie Mark noch einmal versichert hatte, dass sie okay sei und sich nach wie vor abends mit ihm treffen wollte.
Auch Blackburn, Sam Lonnegan und Mark kehrten zu ihren Tätigkeiten zurück. Nur Father Nolan blieb in Cherrys Nähe, was ihr aber nicht unangenehm war.
„Und mit Ihnen ist wirklich alles in Ordnung, Miss Wynn?“, fragte er besorgt.
„Nennen Sie mich doch bitte Cherry. Ja, mir geht es gut, Hochwürden. Ich glaube, dass dieser Zwischenfall Sie mehr mitnimmt als mich. Als der Balken herabgestoßen wurde, habe ich mich furchtbar erschrocken und deshalb geschrien. Aber jetzt geht es mir wieder gut. Ich wüsste nur gerne, wer das getan hat.“
„Ich auch, Cherry, ich auch.
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