Geheimnis von St. Andrews
zerstören. Nach einer Stunde hatte sie die vor vielen Jahrhunderten eingeritzten Worte freigelegt: MON COEUR POUR LA ROSE ROUGE LORETTA A. D. 1466.
Cherry dachte nach. Sie war in Französisch zwar nie eine Leuchte gewesen, aber sie konnte den Satz leicht übersetzen: „Mein Herz für die rote Rose.“
Loretta war vermutlich der Name der Frau, die diese Botschaft hinterlassen hatte. Und A. D. 1466 stand für Anno Domini – also im Jahre des Herrn – 1466. Als Kunstgeschichtsstudentin wusste Cherry, dass man in früheren Jahrhunderten Jahreszahlen mit dem Zusatz A. D. darstellte.
Aber warum hatte Loretta die französische Sprache für ihre Botschaft benutzt? Vielleicht stammte sie ja aus Frankreich. Cherry erinnerte sich, dass damals viele adlige Familien Englands auch Verwandtschaft auf dem europäischen Kontinent gehabt hatten.
Auf jeden Fall stand Loretta damals in dem Bürgerkrieg auf derselben Seite wie Sir Geoffrey Stowe, der mit dem Gruftgold spurlos verschwunden war. Beide traten für die rote Rose ein.
Ob es eine direkte Verbindung zwischen Loretta und Sir Geoffrey gab? Ob sie seine geheimnisvolle Geliebte gewesen war?
Cherry warf einen verstohlenen Blick über die Schulter nach hinten. Aber von Blackburn oder Lonnegan war immer noch nichts zu sehen. Sie ging mit ihrem Handy online und rief eine Suchmaschine auf. Sie musste ein wenig probieren, aber dann bekam sie ein brauchbares Ergebnis. Zur Zeit der Rosenkriege hatte es offenbar in der Nähe von Pittstown eine gewisse Loretta Dunnington gegeben, die aus Avignon stammte und die Tochter eines französischen Landadligen war. Cherry runzelte nachdenklich die Stirn. Wo war ihr der Name Dunnington schon einmal begegnet?
Und dann fiel es ihr wieder ein. Lord Dunnington und dessen Familie lagen in der Krypta unter St. Andrews begraben. Cherrys Pulsschlag beschleunigte sich. Hatte sie eine Verbindung gefunden, von der bisher niemand gewusst hatte?
Sie ging offline und holte sich das Foto aus dem Datenspeicher, das sie von dem rätselhaften Kirchenbucheintrag gemacht hatte.
Cherry schaute sich die seltsamen Zeichen genau an. Viele Experten hatten schon versucht, dieses Rätsel zu lösen. Die Frage war nur, ob sie über die mögliche Verbindung zwischen Loretta und Sir Geoffrey Bescheid gewusst hatten. Cherry hätte auch gern mehr über Loretta erfahren, aber ihre Online-Datenbänke gaben momentan keine weiteren Informationen her.
Die Geheimschrift begann mit einer Art gezeichnetem Boot, in dem ein Männchen stand und eine Münze hielt. War das vielleicht Charon, der Fährmann, der die Verstorbenen hinüber in die Totenwelt brachte? Cherry schüttelte den Kopf. Das konnte nicht sein. Die mysteriösen Zeichen waren von einem christlichen Pfarrer gemalt worden, und der hatte mit dem heidnischen Charon gewiss nichts am Hut. Oder vielleicht doch? Waren die Münze und das Boot vielleicht nur Täuschungsmanöver, um Uneingeweihte in die Irre zu führen? Die Geheimschrift sollte schließlich dazu dienen, die Anhänger der weißen Rose ins Leere laufen zu lassen und Sir Geoffrey die Flucht zu ermöglichen.
Hinter dem gezeichneten Boot glaubte Cherry ein Fenster und einen Rosenstock zu erkennen. Und was sollte das nun bedeuten? In gotischen Kirchen hatte man oft Fenster, die nach Westen gerichtet waren, mit stilisierten Rosen versehen. Suchend schaute sich Cherry in St. Andrews um. An den Kirchenfenstern in westlicher Richtung waren keine Blumenmotive zu erkennen. Aber sie waren auch später eingesetzt worden, lange nach der Epoche der Gotik.
Plötzlich kam Cherry sich größenwahnsinnig vor. Glaubte sie wirklich, als junge Studentin im dritten Semester das große Rätsel lösen zu können? Ihr Selbstbewusstsein war im Keller.
Im Keller!
Cherry schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Natürlich! Unter der Kirche befand sich die Krypta, unterirdisch wie ein Keller. Was würde sie möglicherweise auf der westlichen Seite des Grabgewölbes finden?
Bevor sie weiterüberlegen konnte, hörte sie die schweren Schritte Blackburns. Der Restaurator stieg aus der Krypta nach oben. Schnell widmete sich Cherry wieder ihrer Arbeit. Dabei setzte sie sich allerdings so, dass die freigelegte Schrift durch ihren Körper verdeckt wurde. Sie wollte Blackburn vorerst nichts davon erzählen, denn sie traute ihm immer noch nicht. Er kam auf sie zu.
„Wie ich sehe, sind Sie ja schon ein Stück weitergekommen, Miss Wynn. Aber zu Ihrem Praktikum gehört auch,
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