Geheimnisse der Lebenskraft Chi

Jesuiten verstanden das Tao als Logos oder Gott. Wenn es so ist, dass sich uns auf dem Weg des Tao auch das Wesen und Wirken des Chi erschließt, könnte auch Jungs Definition des Tao - das Unbewusste zum Bewussten bringen - von Nutzen sein.
    Ein Tag, der im Kalender zu markieren ist: Dr. Chow führt mich in die Chi-Gong-Praxis im Stehen ein. Schon nach zehn Minuten wird mir klar, was für ein süßes Leben ich als sitzend Übender hatte. Jetzt muss ich eine halbe Stunde oder länger am Fleck stehen, die Füße schulterbreit auseinander, die Knie leicht gebeugt, die Hände gut einen halben Meter vor dem Bauch, als würde ich einen Wasserball halten. Ich ermüde schnell in dieser Haltung, obwohl die Chi-Empfindung in Armen und Beinen spürbar stärker ist. Die Atmosphäre im Zimmer ist schwer von meinem Chi, und Dr. Chow zeigt mir, wie ich das Chi am Ende einer Übungsperiode mit den Händen zusammenfegen und in meinen Dantian einmassieren kann. Das ist nicht das Ansammeln und Verdichten von Energie, wie es in den Kampfkünsten beschrieben wird, wenn es den Körper für den Kampf aufzubauen gilt - das wäre die Praxis des harten Chi Gong. Ich treibe lediglich streunendes Chi zusammen und führe es nach Hause.
    In der Mitte meiner dritten Übungsphase im Stehen fühle ich mich so schläfrig in Frieden mit der Welt, dass ich mich zum Ausruhen auf die Liege rolle. Ich habe noch kaum die Augen geschlossen, als die Tür auffliegt und Dr. Chow im erhellten Viereck steht. »Sie faul!«, ruft er. »So niemals bestehen
große Prüfung.« Erschrocken springe ich auf und nehme die Übungshaltung wieder ein, während er die Tür schließt, der Puls klopft deutlich in meinen Handgelenken.
    Oftmals frage ich mich, ob ich die bedingungslose Zielstrebigkeit eines ernsthaften Schülers überhaupt besitze. Zu Hause übe ich nicht wie versprochen jeden Morgen und jeden Abend - es gibt so vieles, was mich ablenkt. Wenn Aristoteles recht hat, dass unsere größte Stärke auch unsere größte Schwäche ist, dann liegt meine große Stärke eben darin, dass mich so viele Dinge interessieren, unter anderem Chi Gong. Und meine größte Schwäche liegt in ebendiesen vielfältigen Interessen, die mich alle vom Chi Gong ablenken.
    Nach sechs Wochen Chi Gong im Stehen ist die Haltung erträglich, aber keineswegs angenehm geworden. Das Chi selbst allerdings wirkt anregend und belebend. Ich beschreibe Dr. Chow die neuen Wege, die sich das Chi bahnt, und er führt mir vor Augen, wie das Chi die Meridiane der einzelnen Organe nachzeichnet und sie dadurch in ihrer Funktionsfähigkeit gestärkt werden. Das verhindert vorzeitiges Altern, sagt er, und wirkt insgesamt lebensverlängernd. Ich frage ihn, ob es stimmt, dass er über dreihundert Jahre alt ist, und er sagt Ja, das sei auf ungefähr zweihundertfünfzig Jahre genau.
     
    Niemand weiß, wie das Wissen um die Meridiane zustande kam, aber wir dürfen wohl annehmen, dass Chi-Gong-Übende die Energielinien durch innere Betrachtung entdeckten und sich darüber austauschten. Erste Akupunktur-Experimente führten dann später vielleicht zur Systematisierung dieser Entdeckungen. In Höhlen überall auf der Welt haben die Künstler und Schamanen vergangener Jahrtausende uns röntgenartige
Bilder von Menschen und Tieren hinterlassen, auf denen solche Energielinien zu erkennen sind.
    Vielleicht haben diese frühen Chi-Gong-Jünger, die wir zu den ersten Wissenschaftlern zählen können, auch bereits entdeckt, dass sexuelle Betätigung das Energiefeld schwächen kann. Denkbar, dass daher der Gedanke des zölibatären Lebens stammt, dessen sehr praktischer Ursprung später in den Moralvorstellungen der organisierten Religionen unterging.
    Mein Zwangs-Zölibat hat dankenswerterweise ein Ende gefunden, und ich bin in die Welt der irdischen Freuden zurückgekehrt - aber ich bin längst nicht mehr der Lüstling, der ich einmal war. Die Natur will es nun einmal so: Man kann nicht großer Liebhaber und großer Heiler zugleich sein. Wer als bescheidener Chi-Gong-Übender um die Vermehrung seines Chi ringt, wird nicht zugleich auch ein Ausbund von Liebesglut sein. Im Chi Gong tritt Weisheitsliebe an die Stelle der Lust - so zumindest die Theorie. Ähnlich haben wir es bei Aristoteles:Wen die Weisheitsliebe lockte, dem stand eine tiefe Verwandlung bevor; Philosophie bedeutet ein neues Leben, nicht nur ein neues Denken.
     
    Seit Neuestem habe ich von Dr. Chow die Erlaubnis, Bücher über Chi Gong zu lesen, und nach