Geheimnisse einer Sommernacht
wirtschaftlichen Neuerungen wirkte das Straßenbild der französischen Metropole nahezu mittelalterlich. Dunkle, enge Gassen wanden sich durch die Arrondissements mit ihren vielen Prachtbauten, eine bezaubernd schmuddelige Vergewaltigung der Sinne durch eine Architektur, die von den spitzen Türmen alter gotischer Kirchen bis zum klotzigen Arc de Triomphe reichte.
Das Coeur de Paris, das Hotel, in dem sie abgestiegen waren, lag am linken Seineufer zwischen der Rue de Montparnasse mit ihren eleganten Läden und den Markthallen von Saint-Germain-des-Pres, wo exotische Waren aller Art – Stoffe und Spitzen, Parfüms, Kunst und Antiquitäten – in verwirrender Vielfalt angeboten wurden. Das Coeur de Paris war ein Prachtbau mit Suiten, die mit allem ausgestattet waren, was die Sinne anregte. Im Salle de Bain – so nannte man hier das Badezimmer – lag rosa Marmor auf dem Fußboden, hingen italienische Fliesen an den Wänden, und auf einem vergoldeten Rokokosofa konnte man sich von den Anstrengungen des Bades ausruhen.
Es gab nicht eine, sondern gleich zwei Badewannen aus Porzellan, eine jede mit ihrem eigenen Heißwasserboiler und Kaltwassertank. An der Decke über den Wannen hing ein ovales Landschaftsgemälde, an dem sich der Badende erfreuen konnte, während er im Wasser lag. Aufgewachsen mit der puritanischen britischen Ansicht, dass ein Bad der Hygiene diente, die zügig zu erledigen sei, amüsierte Annabelle die Vorstellung, dass ein Bad eine dekadente Zerstreuung sein sollte.
Die Tatsache, dass im Speisesaal eines Restaurants Mann und Frau gemeinsam am Tisch sitzen konnten und nicht wie in England in Separees verbannt waren, begeisterte Annabelle ganz besonders. Nie zuvor hatte sie so köstliche Speisen gegessen, Hähnchen mit Perlzwiebeln in Rotweinsoße gedünstet oder gebackene Ente, zart und saftig unter der krossen Haut, oder Rascasse, ein Drachenkopffisch mit Trüffelsoße, ganz zu schweigen von den Desserts, Kuchen, getränkt in Likör und gekrönt mit Schaumgebäck, oder Cremespeisen mit Nüssen, und glasierten Früchten.
Eines Abends, als Simon wieder einmal mit ansah, wie Annabelle die qualvolle Entscheidung treffen musste, ob sie Birnenkuchen oder Vanillesouffle bestellen wollte, versicherte er ihr allen Ernstes, dass Generäle mit weit weniger gründlicher Überlegung in den Krieg gezogen seien.
An einem Abend besuchten sie ein Ballett mit skandalös spärlich bekleideten Tänzerinnen, am nächsten Abend eine Komödie mit so anzüglichen Witzen, dass sie keiner Übersetzung bedurften. Von Simons Bekannten, teils waren es französische Bürger, teils Touristen oder Emigranten aus Großbritannien, Amerika oder Italien, wurden sie zu Bällen und Soireen eingeladen. Einige dieser Leute waren Aktionäre oder Direktoren von Firmen, an denen Simon Anteile besaß, andere waren in seine Schifffahrts- und Eisenbahnunternehmen einbezogen. „Wieso kennst du so viele Leute?“, hatte Annabelle nach ihrer ersten Einladung gefragt, bei der sie unzähligen Fremden vorgestellt worden war.
Simon hatte gelacht und sie liebevoll gehänselt, dass es auch noch eine Welt außerhalb der britischen Aristokratie gäbe. Wenn sie ehrlich war, hatte sie sich so etwas nie vorstellen können. Bislang hatte sie nie außerhalb der engen Schranken dieser exklusiven Gesellschaft gedacht. Diese Männer gehörten genau wie Simon zu einer rein ökonomischen Elite. Alle waren damit beschäftigt, ein Vermögen aufzubauen, manchen gehörten wahrhaftig ganze Städte, die sie um ihre schnell wachsenden Industriebetriebe aus dem Boden stampften. Diese Herren besaßen Gruben und Plantagen, Fabriken und Lagerhäuser, und selten schienen sich ihre unternehmerischen Interessen nur auf ein einziges Land zu beschränken. Während ihre Frauen einkaufen gingen und Kleider von Pariser Schneiderinnen trugen, trafen sich die Männer in Cafes und privaten Etablissements und führten endlose Diskussionen über ihre Geschäfte und die Politik. Viele rauchten Tabak in Papierröllchen, die man Zigaretten nannte, eine Art zu rauchen, die man von ägyptischen Soldaten übernommen und die sich auf dem Kontinent rasch ausgebreitet hatte. Beim Dinner sprach man über Dinge, die man bislang in Annabelles Gegenwart nie erwähnt hätte, über Ereignisse und Veranstaltungen, von denen sie noch nie gehört hatte und die mit Sicherheit auch nicht in den Zeitungen erörtert wurden.
Annabelle stellte fest, dass man ihrem Mann immer aufmerksam zuhörte und
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