Geheimnisse einer Sommernacht
seinen Rat in vielerlei Angelegenheiten suchte. Sicherlich war Simon für die britische Aristokratie ein Niemand, aber außerhalb dieser Gesellschaftsschicht übte er offensichtlich bedeutenden Einfluss aus. Jetzt verstand sie, weshalb Lord Westcliff ihn so sehr schätzte. Simon Hunt hatte es aus eigener Kraft zu einem mächtigen Mann gebracht. Annabelle bemerkte, dass man ihm Respekt zollte, dass andere Frauen ihn anhimmelten, und allmählich begann sie, ihren Mann in einem ganz anderen Licht zu sehen. Sie wurde sogar leicht eifersüchtig, wenn eine Frau, die beim Abendessen neben ihm saß, zu viel von seiner Aufmerksamkeit forderte, oder wenn eine andere mit Simon flirtete und mit ihm Walzer tanzen wollte.
Auf dem ersten Ball, den sie besuchten, stand Annabelle im Empfangszimmer mit einer Gruppe anderer junger Frauen zusammen. Da sie noch immer nicht viel über ihren eigenen Mann wusste, versuchte Annabelle soeben, Fragen über Simon von der Frau eines amerikanischen Waffenproduzenten und von zwei Französinnen abzuwehren, die mit Kunsthändlern verheiratet waren. Da erschien das Subjekt ihrer Unterhaltung leibhaftig.
Simon, der einen perfekt sitzenden schwarze» Abendanzug trug, wechselte zunächst einige höfliche Worte mit den verlegen errötenden und lachenden Damen, dann wandte er sich Annabelle zu, um sie zum Tanz zu holen. Sie sahen sich tief in die Augen, als aus dem Ballsaal eine herrliche Melodie herüberklang. Annabelle erkannte den Tanz, einen Walzer, einen richtigen Ohrwurm, in London so beliebt, dass die Mauerblümchen es immer als reine Tortur empfanden, still auf ihren Stühlen sitzen zu müssen.
Während sie ihre Hand auf Simons Arm legte, musste sie daran denken, wie oft sie Simons Aufforderung zum Tanz in der Vergangenheit abgelehnt hatte. „Bekommst du eigentlich immer, was du willst?“, fragte sie lächelnd.
„Ja, manchmal dauert es nur etwas länger“, gab er zu. Als sie den Ballsaal betraten, legte er die Hand um Annabelles Taille und führte seine Frau auf die Tanzfläche.
Sie war richtig aufgeregt. „Das ist mein Lieblingswalzer“, erzählte sie, als sie sich in seinen Arm legte.
„Ich weiß, deshalb habe ich ihn bestellt.“
„Woher willst du das denn wissen?“, fragte sie ungläubig lachend. „Haben dir die Bowman-Schwestern das etwa erzählt?“
Simon schüttelte den Kopf. „Nein, aber mehr als einmal habe ich dein Gesicht beobachtet, wenn diese Melodie gespielt wurde. Du sahst immer aus, als wolltest du gleich aufspringen.“
Mit leicht geöffneten Lippen blickte sie zu ihm auf. Sie konnte es kaum fassen. Obwohl sie immer so abweisend zu ihm gewesen war, hatte er sie so genau und so liebevoll beobachtet. Ihr wollten die Tränen kommen, und sie drehte den Kopf zur Seite, um ihren plötzlichen Gefühlsausbruch zu unterdrücken.
Simon führte sie sicher zwischen den anderen Tanzpaaren hindurch, sein starker Arm und die Hand auf ihrem Rücken boten ihr Halt und mit leichtem Druck Führung. Es war so leicht, ihm zu folgen, sich im Rhythmus der Musik zu wiegen, während ihre Röcke über den glänzenden Tanzboden streiften und leicht Simons Beine umspielten. Die bezaubernde Melodie schien sie ganz zu durchdringen und erfüllte sie mit ungebärdiger Freude.
Simon andererseits verspürte fast ein Gefühl des Triumphes, während er Annabelle über den Tanzboden führte.
Endlich, nach zwei Jahren des Werbens, durfte er seinen lang ersehnten Walzer mit ihr tanzen. Aber noch glücklicher war er darüber, dass Annabelle auch nach diesem Walzer ihm gehörte, dass er sie dann zurück ins Hotel bringen, sie auskleiden und bis zum Morgengrauen lieben durfte.
Sie schmiegte sich in seinen Arm, ihre behandschuhte Hand lag leicht auf seiner Schulter. Nur wenige Frauen waren seiner Führung mit einer solchen Leichtigkeit gefolgt. Es war, als wisse sie, in welche Richtung es ging, sogar noch ehe er selbst es wusste. Leichtfüßig und in völliger Harmonie bewegte sich das Paar wie im Fluge über die Tanzfläche.
Die Reaktion seiner Freunde, als er ihnen seine junge Frau vorstellte, hatte Simon nicht überrascht. Glückwünsche, unterschwellig begehrliche Blicke und auch leise gemurmelte Mitleidsbekundungen, dass man ihn nicht um die Last beneide, eine so schöne Frau hüten zu müssen. Manchmal schien es ihm sogar, als sei Annabelle in letzter Zeit noch hübscher geworden, falls das überhaupt möglich war. Nach den vielen gemeinsamen Liebesnächten sah sie auch nicht mehr so
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