Geheimnisse einer Sommernacht
diesem Zimmer war das große Fenster an der Innenseite, das den Blick auf den zwei Stockwerke tiefer liegenden großen Salon freigab. Durch das weit geöffnete Fenster klang die Musik herauf, und doch blieb man hier oben vor den Blicken der Gäste dort unten verborgen. Verwundert sah Annabelle sich um. Ihr Blick fiel auf einen kleinen Tisch, auf dem Teller mit silbernen Servierhauben standen.
„Ich habe lange überlegt, was Ihnen Appetit machen könnte. Schließlich habe ich den Koch gebeten, Ihnen von allem etwas zu servieren.“
Annabelle war sprachlos. Noch nie zuvor hatte sich ein Mann so bemüht, ihr eine Freude zu machen. Sie schluckte verlegen und wagte nicht, ihn anzusehen. „Herrlich … Ich …, ich wusste gar nicht, dass es dieses Zimmer gibt“, brachte sie schließlich heraus.
„Das wissen auch nur wenige Eingeweihte. Die Gräfin sitzt hier manchmal, wenn sie sich zu schwach fühlt hinunterzugehen.“ Hunt trat vor Annabelle, hob mit dem Finger ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. „Würden Sie mit mir zu Abend essen?“
Annabelles Herz schlug so heftig, dass Hunt es in seinem Finger spüren musste. „Ich habe keine Anstandsdame“, flüsterte sie.
Hunt lächelte und ließ ihr Kinn los. „Keine Angst. Ich werde Sie bestimmt nicht verführen. Nicht, wenn Sie viel zu schwach sind, sich zu wehren.“
„Sehr rücksichtsvoll.“
„Ich werde Sie verführen, sobald Sie wieder gesund sind.“
Annabelle unterdrückte ein Lächeln und sah ihn mit leicht erhobenen Brauen an. „Sie sind sich aber sehr sicher.
Meinten Sie nicht eher, sie wollen versuchen, mich zu verführen?“
„Glaube an dich und nichts misslingt dir, hat mich mein Vater gelehrt.“ Sanft legte er seine Hand auf Annabelles Rücken und geleitete sie zu einem Stuhl. „Möchten Sie ein Glas Wein?“
„Besser nicht“, lehnte Annabelle ab, während sie auf dem weich gepolsterten Stuhl Platz nahm. „Der steigt mir bestimmt direkt zu Kopf.“
Hunt schenkte ein Glas ein und reichte es ihr mit einem charmant-verführerischen Lächeln. „Trinken Sie ruhig. Ein kleiner Schwips schadet nichts. Ich werde auf Sie aufpassen.“
Annabelle nippte an dem lieblichen Wein. Über den Rand ihres Glases sah sie Hunt misstrauisch an. „Ich frage mich, wie oft Sie mit genau diesem Versprechen den Ruin einer Dame eingeleitet haben …“
„Nie“, erwiderte Hunt, lüftete die Servierhauben und stellte Sie beiseite. „Normalerweise verführe ich die Damen, wenn sie bereits ruiniert sind.“
„Und? Gibt es viele gefallene Mädchen in Ihrer Vergangenheit?“, konnte Annabelle sich nicht zurückhalten.
„Reichlich“, gestand Hunt und sah ihr dabei in die Augen, mit einem Blick, der weder reuevoll noch stolz wirkte.
„In letzter Zeit war ich allerdings meist mit anderen Dingen beschäftigt.“
„Und die wären?“
„Ich überwache den Bau einer Lokomotivfabrik, in die Westcliff und ich investiert haben.“
„Wirklich?“, fragte Annabelle interessiert. „Ich bin noch nie mit einem Zug gefahren. Wie ist das?“
Hunt grinste. Wie ein kleiner Junge verriet er seine Begeisterung. „Schnell. Aufregend. Die Durchschnittsgeschwindigkeit eines Personenzuges liegt bei etwa dreißig Meilen in der Stunde. Aber Consolidated baut eine sechsachsige Lokomotive, die bis zu fünfzig Meilen in der Stunde fahren wird.“
„Fünfzig Meilen in der Stunde?“, wiederholte Annabelle ungläubig. Sie konnte sich wirklich nicht vorstellen, mit einer solchen Geschwindigkeit durch die Gegend zu rasen. „Ist das nicht sehr unangenehm für die Passagiere?“
Hunt musste über die Frage lächeln. „Sobald der Zug seine Reisegeschwindigkeit erreicht hat, bemerkt man die Bewegung nicht mehr.“
„Wie sehen denn die Passagierabteile aus?“
„Nicht sehr luxuriös“, gab Hunt zu, während er sich noch ein Glas Wein einschenkte. „Ich würde jedem raten, in einem Sonderabteil zu reisen, insbesondere jemandem wie Ihnen.“
„Jemandem wie mir?“ Annabelle lächelte vorwurfsvoll. „Sie liegen völlig falsch, wenn Sie damit andeuten wollen, ich sei verwöhnt.“
„Das sollten Sie aber sein.“ Sein Blick glitt über ihr rosiges Gesicht, über ihre schmalen Schultern und zurück zu ihren Augen. „Ein bisschen Verwöhnung könnten Sie durchaus vertragen.“ Da war etwas in seiner Stimme, das ihr fast den Atem raubte.
Annabelle holte tief Luft. Sie hoffte inbrünstig, dass Hunt sein Versprechen halten und sie nicht verführen würde.
Denn …, Gott
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