Geheimnisse einer Sommernacht
ihre Hand, die immer noch auf seiner Brust lag, strich kurz über die schlanken Finger, dann ließ er sie los. „Westcliff ist nicht so hochnäsig, wie er sich gibt. Man muss ihn erst länger kennen, dann weiß man seine feinen Charakterzüge zu schätzen.“
„Wenn du meinst.“ Seufzend trat Annabelle zurück in das muffige, abgedunkelte Krankenzimmer. „Danke, Mr. Hunt.“
Ängstlich sah sie sich um. Das Zimmer war leer. Philippa war noch nicht zurück.
Als Annabelle sich wieder Hunt zuwandte, bemerkte sie seinen forschenden Blick. Sie ahnte, dass er eine Menge Fragen hatte, aber er sagte nur: „Sie sollten jetzt ruhen.“
„Geruht habe ich die letzten Tage ständig. Ich werde noch verrückt vor Langeweile, doch andererseits strengt mich allein schon der Gedanke an, mich mit irgendetwas zu beschäftigen.“ Verdrossen senkte sie den Kopf. Sie starrte eine Weile auf die paar Zentimeter Fußboden zwischen seinen und ihren Füßen, bevor sie zaghaft fragte: „Sie haben sicherlich keine Lust, heute Abend das Schachspiel fortzusetzen?“
Schweigen. „Nanu, Miss Peyton“, antwortete er endlich mit leicht spöttischem Unterton. „Ich kann ja kaum fassen, dass Sie mich bitten, Ihnen Gesellschaft zu leisten.“
Annabelle wagte nicht aufzublicken. Sie spürte, dass sie über und über rot geworden war. „Ich würde sogar den Teufel bitten, wenn er mir die Langeweile vertreibt.“
Leise lachend strich Hunt ihr eine Locke hinters Ohr. „Na ja, vielleicht komme ich später in Ihr Zimmer“, murmelte er, verbeugte sich kurz, aber formvollendet, drehte sich um und ging aufrecht und selbstbewusst wie immer den Korridor hinunter.
Viel zu spät erinnerte sich Annabelle, dass an diesem Abend für die Gäste ein Buffet und ein Musikabend geplant waren. Ganz gewiss würde Simon Hunt sich lieber mit den anderen Hausgästen unterhalten, als einem kranken, ungekämmten und schlecht gelaunten Mädchen elementare Schachkenntnisse beizubringen. Sie wünschte von Herzen, sie könnte ihre spontane Bitte rückgängig machen. Oh Gott, wie peinlich! Wie verzweifelt musste sie gewirkt haben! Todunglücklich schleppte sie sich zu ihrem Bett und ließ sich, steif wie ein gefällter Baum, in die ungemachten Kissen fallen.
Kurz darauf klopfte es an der Tür, und zwei beschämt dreinblickende Zimmermädchen betraten das Zimmer. „Wir wollen aufräumen, Miss“, meldete sich eine der beiden. „Der Herr schickt uns. Er sagt, wir sollen Ihnen helfen.“
„Danke.“ Annabelle hoffte, dass Westcliff nicht zu streng mit den Mädchen gewesen war. Sie setzte sich auf einen Stuhl und beobachtete die beiden, wie sie eifrig die Fenster öffneten, frische Luft hereinließen, die Bettwäsche wechselten, Staub putzten, und schließlich eine Badewanne brachten, heißes Wasser einfüllten. Eins der Mädchen half Annabelle beim Ausklei. den, die andere brachte ein großes Badetuch und einen Eimer mit frischem, warmem Wasser, mit dem sie Annabelles Haare waschen wollte.
Mit zitternden Beinen stieg Annabelle in die mit Mahagoni verkleidete Klappwanne.
„Halten Sie sich ruhig an mir fest“, sagte das jüngere Mädchen und reichte Annabelle die Hand.
Sie gehorchte und ließ sich langsam ins Wasser sinken. „Wie heißt du?“, fragte Annabelle, während sie tiefer in die Wanne rutschte, sodass auch die Schultern mit dem dampfend heißen Wasser bedeckt waren.
„Meggie, Miss.“
„Meggie, ich glaube, ich habe eine Goldmünze im Privatsalon der Familie fallen lassen … Wärst du so lieb, danach zu suchen?“
Das Mädchen sah sie bestürzt an. Ganz bestimmt wunderte sie sich, wieso Annabelle einen solchen Schatz auf dem Boden hatte liegen lassen und was wohl geschehen würde, wenn sie die Münze nicht finden konnte.
„Selbstverständlich, Miss.“ Sie knickste verschämt und eilte davon. Annabelle tauchte den Kopf unter Wasser, kam wieder hoch und rieb sich die Augen. Das andere Mädchen begann, ihr die Haare zu waschen. „Ach, tut das gut“, murmelte Annabelle und genoss die Kopfmassage.
„Meine Ma sagt immer, man soll nicht baden, wenn man krank ist“, meinte das Mädchen skeptisch.
„Ach, ich versuche es halt“, antwortete Annabelle und legte den Kopf zurück, damit die Zofe ihr die Seife aus dem Haar spülen konnte.
„Ich habe sie gefunden“, rief Meggie völlig außer Atem und streckte Annabelle die Münze hin.
Höchstwahrscheinlich hatte sie noch nie eine Goldmünze in der Hand gehabt. Ein Hausmädchen verdiente
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