Geheimnisse einer Sommernacht
auf, stützte sich auf den Tisch und beugte sich zu Annabelle hinunter. „Haben Sie Lust auf Schach? Ich habe das Schachbrett heraufbringen lassen, für alle Fälle.“
Annabelle nickte, und während sie nachdenklich in seine gütigen dunklen Augen schaute, fiel ihr auf, dass dies wohl der erste Abend seit vielen Jahren war, an dem sie sich wirklich glücklich und zufrieden fühlte. Mit Simon Hunt. Einem Mann, der sie neugierig machte und von dem sie wissen wollte, welche Gedanken und Gefühle er unter seiner rauen Schale verbarg.
„Wer hat Ihnen Schach beigebracht?“, fragte sie, während sie zusah, wie er die Schachfiguren in die alten Positionen stellte.
„Mein Vater.“
„Ihr Vater?“
Ein leicht spöttisches Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Kann ein Metzger nicht auch Schach spielen?“
„Natürlich, ich …“ Wie taktlos. Verlegene Röte stieg ihr ins Gesicht. „Es tut mir leid.“
Lächelnd blickte er sie an. „Sie scheinen ein falsches Bild von meiner Familie zu haben. Die Hunts sind eine solide Mittelklassefamilie. Meine Geschwister und ich haben alle die Schule besucht. Und jetzt arbeiten meine Brüder für meinen Vater. Sie wohnen alle zusammen über dem Geschäft. Und abends spielen sie oft Schach miteinander.“
Erleichtert, dass er die taktlose Bemerkung nicht übel zu nehmen schien, nahm Annabelle einen Bauern in die Hand. „Warum arbeiten Sie nicht auch wie Ihre Brüder mit Ihrem Vater zusammen?“
„In meiner Jugend war ich ein störrischer Flegel“, gestand. Hunt grinsend. „Was auch immer mein Vater sagte, ich versuchte, ihm das Gegenteil zu beweisen.“
„Und wie reagierte Ihr Vater?“, fragte Annabelle augenzwinkernd.
„Erst versuchte er es mit Geduld. Als das nicht fruchtete, mit Wut.“ Hunt lächelte reumütig. „Glauben Sie mir, ein Metzger kann richtig zuschlagen.“
„Das kann ich mir gut vorstellen“, murmelte Annabelle. Verstohlen betrachtete sie Hunts breite Schultern und erinnerte sich an die harten Muskelpakete unter seiner Jacke. „Ihre Familie ist bestimmt sehr stolz auf Ihren Erfolg.“
„Vielleicht.“ Hunt zuckte die Schultern. „Leider haben meine Erfolge wohl zu einer gewissen Distanz zwischen uns geführt. Meine Eltern wollen mir nicht erlauben, dass ich Ihnen ein Haus im West End kaufe. Sie können auch nicht verstehen, weshalb ich dort wohnen will, und sie halten die Art, wie ich meine Geschäfte mache, für keine richtige Arbeit. Sie wären glücklicher, wenn ich mich mit etwas … Handfesterem beschäftigen würde.“
Annabelle sah ihn nachdenklich an. Sie verstand, was er andeuten wollte. Schon lange war ihr klar gewesen, dass Simon Hunt nicht zu den Oberklasse-Kreisen gehörte, in denen er sich bewegte. Doch erst jetzt verstand sie, dass er auch nicht mehr in die Welt passte, die er verlassen hatte. Sie fragte sich, ob er sich manchmal einsam fühlte, oder ob er dieses Gefühl ignorierte und sich einfach in seine Arbeit stürzte. „Gibt es etwas Handfesteres als eine riesige, schwere Lokomotive?“, versuchte sie das Gespräch wieder aufzunehmen.
Lachend griff er nach dem Bauern. Doch Annabelle wollte die Elfenbeinfigur nicht loslassen, und Hunt umschloss ihre Finger. Tief schauten sie einander in die Augen. Fasziniert spürte sie, wie sich die Wärme seiner Hand auf ihren Arm übertrug, bis zur Schulter kroch und dann durch den ganzen Körper strömte. Es war ein Gefühl, als stünde sie in gleißendem Sonnenlicht. Ein Glücksgefühl, so überwältigend, dass sie kaum die Tränen zurückhalten konnte.
Erschrocken zog Annabelle die Hand zurück. Polternd rollte die Figur zu Boden. „Oh je, das tut mir leid“, versuchte sie sich mit einem verlegenen Lachen zu entschuldigen. Plötzlich bekam sie Angst. Länger durfte sie mit Hunt nicht allein bleiben. Schwerfällig erhob sie sich. „Ich bin ziemlich müde, der Wein scheint nun doch seine Wirkung zu zeigen. Wenn ich jetzt zurück auf mein Zimmer gehe, bleibt Ihnen auch noch Zeit, sich mit den anderen Gästen zu unterhalten, und der Abend ist für Sie nicht ganz vergeudet. Danke für das Essen und die Musik … und …“
Mit ein paar Schritten kam Hunt um den Tisch und fasste sie um die Taille. „Annabelle?“ Die Stirn besorgt in Falten gezogen, sah er sie fragend an. „Haben Sie etwa Angst vor mir?“
Stumm schüttelte sie den Kopf.
„Weshalb dann der plötzliche Aufbruch?“
Sie hätte ihm viele Antworten geben können, aber im Moment fiel ihr weder eine
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