Geheimnisse einer Sommernacht
Glück, Lord Kendall über den Weg zu laufen, ihn vielleicht sogar dazu zu bewegen, ein paar Minuten mit ihr allein zu sein.
Langsam, wegen ihres noch schmerzenden Fußgelenks, ging sie durch den Korridor, der zur Haupttreppe führte.
Als sie an der halb geöffneten Tür zum Privatsalon der Marsdens vorbeikam, blieb sie kurz stehen und schlüpfte dann leise hinein. Es war dunkel in dem Raum, doch das Licht aus dem Korridor reichte aus, um die Umrisse des Schachtischs in der Zimmerecke zu erkennen. Magisch angezogen näherte sie sich und stellte erfreut fest, dass ihr Spiel mit Simon Hunt so wieder aufgebaut war, wie sie es verlassen hatten. Wieso hatte er sich die Mühe gemacht, die Figuren wieder aufzustellen? Erwartete er, dass sie den nächsten Zug machte?
Nichts berühren, befahl sie sich. Aber die Versuchung war zu groß. Konzentriert betrachtete sie die Situation auf dem Brett. Hunts Springer stand in einer vorzüglichen Position, um ihre Königin zu nehmen. Das bedeutete, sie musste die bedrohte Dame entweder fortbewegen oder verteidigen. Und dann sah sie plötzlich, was zu tun war. Sie verschob einen Turm und nahm so Hunts Springer. Mit einem zufriedenen Lächeln entfernte sie die Figur, legte sie neben das Brett und verließ das Zimmer.
Über die Haupttreppe erreichte sie die Eingangshalle, und von dort wanderte sie durch einen weiteren Korridor zu den Gesellschaftssälen. Der dicke Teppich dämpfte die Schritte, aber plötzlich lief ihr ein Schauer über den Rücken. Jemand folgte ihr. Vorsichtig blickte sie sich um. Lord Hodgeham! Für einen Mann mit seinem Übergewicht bewegte er sich erstaunlich schnell. Annabelle wollte ihre Schritte noch beschleunigen, aber Hodgeham hielt sie schon an ihrer Seidenschärpe fest. Wenn sie nicht riskieren wollte, dass der dünne Stoff riss, musste Annabelle stehen bleiben.
Sein Vorgehen bewies, wie dreist Hodgeham mittlerweile war. Er besaß die Unverschämtheit, sie in aller Öffentlichkeit zu belästigen. Wütend wirbelte Annabelle herum. Der Mann hatte seine plumpe Figur in einen engen Abendanzug gezwängt. Ein unangenehmer Duft von öligem Haar und Eau de Cologne beleidigte Annabelles Nase.
„Hübsches Geschöpf“, murmelte Hodgeham. Sein Atem stank nach Brandy. „Wieder wohlauf? Dann sollten wir unser gestriges Gespräch fortsetzen, das Ihre Mutter auf eine für mich so angenehme Weise unterbrochen hat.“
„Sie widerlicher …“, begann Annabelle fuchsteufelswild. Aber Hodgeham hielt ihr den Mund zu, bevor sie weiterreden konnte.
„Ich werde alles Kendall erzählen“, drohte er und kam dabei mit seinen wulstigen Lippen ganz nah an ihren Mund.
„Seien Sie gewiss, wenn ich die Geschichte ein wenig ausschmücke, wird er von Ihnen und Ihrer Familie angewidert sein.“ Mit seinem fetten Körper drückte er Annabelle gegen die Wand. Sie wagte kaum, Luft zu holen, so sehr ekelte sie sich vor dem schlechten Atem, den er ihr ins Gesicht blies. „Es sei denn“, säuselte er, „Sie verhalten sich mir gegenüber so entgegenkommend wie Ihre Mutter.“
„Erzählen Sie Kendall doch, was Sie wollen!“, fauchte Annabelle. „Ich verrecke eher in der Gosse, als so einem widerwärtigen Schwein wie Ihnen entgegenzukommen.“
Der Hass in Hodgehams Augen war grenzenlos. „Das werden Sie noch bereuen“, zischte er mit Schaum vor dem Mund.
Annabelle lächelte verächtlich. „Wohl kaum.“
Noch bevor Hodgeham sie losließ, bemerkte Annabelle eine Bewegung am Ende des Ganges. Sie wandte den Kopf zur Seite. Vorsichtig, wie ein Panther, der hinter einer Beute her war, näherte sich ein Mann. Für ihn musste es so aussehen, als habe er Annabelle und Hodgeham bei einer amourösen Umarmung erwischt.
„Lassen Sie mich sofort los“, zischte Annabelle und stieß den plumpen Körper mit aller Kraft von sich. Mit einem letzten Unheil verheißenden Blick ließ Hodgeham von ihr ab, drehte sich um und entfernte sich in die Richtung, aus der der andere Mann kam.
Annabelle zitterte am ganzen Körper, als Simon Hunt ihr die Hand auf die Schulter legte. Fassungslos beobachtete sie Hunts Mienenspiel. Der kalte, fast blutrünstige Blick, mit dem er Hodgeham nachsah, machte ihr regelrecht Angst. Und dann maß Hunt sie mit einem Blick, dass ihr der Atem stockte. Nie zuvor hatte sie bemerkt, dass Simon Hunt die Beherrschung verlor. Wie sehr sie ihn auch verletzt, verhöhnt oder geschnitten hatte, stets war er freundlich und zurückhaltend geblieben. Doch nun schien sie etwas
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