Geheimnisvoll Vertrauter Fremder - Historical Bd 274
gewaltig. Ihr versteht ihn nicht, Kathryn. Ja, manchmal nimmt er Geld dafür, einen Mann wieder zu seiner Familie zurückzubringen. Die meisten sind nur allzu gern bereit, es zu bezahlen, und er legt das Geld gut an. Für jeden Mann, der mit seiner Familie wiedervereint werden kann, gibt es hundert andere, bei denen das unmöglich ist. Manche von ihnen können nie wieder arbeiten und würden ohne Unterstützung einfach verhungern.“
Kathryn fühlte sich sehr eigenartig. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. „Wollt Ihr mir sagen, dass das Geld …?“ Ihre Stimme wurde zu einem Schluchzen, als ihr bewusst wurde, wie sehr sie Lorenzo unrecht getan hatte. „Er hilft den Männern, die er befreit hat, wenn sie nicht die Kraft haben zu arbeiten?“
„Glaubt Ihr, er wirft sie auf die Straße, damit sie sich alleine durchschlagen? Es wäre dann besser, wenn sie schnell sterben, statt langsam zu verhungern, Kathryn. Lorenzo ist reich, aber er macht sich nur wenig aus Geld. Sein Lebenszweck besteht darin, jene üblen Gestalten zu zerstören, die andere Menschen zur Beute machen, sie versklaven und wie Tiere behandeln. Deswegen warnte ich Euch davor, ihn zu lieben, denn er trägt so viel Schmerz in sich.“ Michael schüttelte den Kopf, als sie ihn mit fragendem Blick ansah. „Nein, ich darf Euch wirklich nicht mehr sagen, und ich bitte Euch, nicht mit Lorenzo darüber zu sprechen. Es würde ihn verärgern. Er rechtfertigt sich nicht für das, was er tut, vor niemandem.“
„Er wird von mir nicht erfahren, was Ihr mir heute Abend berichtet habt“, versprach Kathryn. „Aber ich danke Euch sehr dafür, dass Ihr es mir erzähltet. So kann ich sein Handeln jetzt besser verstehen.“
Sie hatte keine Ahnung gehabt, was sich hinter jener kalten Maske verbarg, hinter der vermeintlichen Skrupellosigkeit seiner Geschäfte, der Art, wie er scheinbar willkürlich Leben rettete oder nahm. Selbst jetzt konnte sie nicht an die Männer denken, die er im Wasser zurückgelassen hatte, ohne zu schaudern. Aber sie begann langsam zu begreifen, wie er dachte.
Lorenzo nahm die ledernen Armbänder ab und rieb sich die vernarbte dunkelrote Haut darunter. Es war das Zeichen seiner Sklaverei, eine ständige Erinnerung, die ihn jene Jahre voller Schmerz und Erniedrigung ebenso wenig vergessen lassen würde wie den Hass, der in ihm gärte. An Antonio Santorinis Totenbett hatte er geschworen, dass er nicht eher ruhen würde, bis er Rachid gestürzt und all jene befreit hatte, die der Korsar gefangen hielt. Dieses Vorhaben hatte ihn von jenem Tag an stets angetrieben, und er durfte nicht zulassen, dass irgendetwas das änderte – auch nicht die verführerischen Lippen einer Frau, die seine Sinne erregte, wie es keine andere zuvor je getan hatte.
Sie hatte sich so gut angefühlt, als er sie während ihres gemeinsamen Tanzes in den Armen gehalten hatte, dass die Versuchung, sie zu küssen, übermächtig gewesen war. Sie beschäftigte seine Gedanken auch jetzt noch – und entfachte in ihm ein solches Verlangen, wie er es noch nie gekannt hatte. Nur durch pure Willenskraft konnte er davon Abstand nehmen, sofort zu ihr zu gehen und sie zu der seinen zu machen. Er wollte ihre zarte Haut spüren, wenn sie neben ihm lag, sie berühren, küssen, ganz für sich entdecken. Mit ihr schlafen, sie lieben, sie für immer besitzen …
Nein! Das war Wahnsinn! Er konnte nicht bei Kathryn liegen, ohne seine Schutzmauern fallen zu lassen. Er konnte sie nicht verführen, ohne ihr sein Heim und seinen Namen anzubieten – aber was war sein Name?
Ein Schaudern durchlief ihn, als er sich an den Augenblick erinnerte, in dem sie ihm in die Augen geblickt und ihn gefragt hatte, wer er war. Die Antwort hatte sogar ihn selbst überrascht. Er war Lorenzo Santorini, ein Mann, der sein Leben der Zerstörung seines Feindes gewidmet hatte. Natürlich wusste er, wer er war! Wenn er sich erlaubte, an die Vergangenheit zu denken – an Dinge, die nie bewiesen werden konnten –, hieße das, Verwirrung heraufzubeschwören.
Er rieb an seinem linken Handgelenk. Es schmerzte ihn immer besonders, und es war geschwollen, da er die Heilsalbe nicht so oft aufgetragen hatte, wie er es hätte tun sollen. Er stand aus dem Bett auf, holte das Salbentöpfchen, das Ali Khayr ihm gegeben hatte, und rieb etwas von dem Inhalt auf sein gefoltertes Fleisch. Er runzelte die Stirn, als er mit einem Finger über die dünne Linie fuhr, die über den Wulst der vernarbten Haut herausragte. Sie wirkte
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