Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)
wie es der momentanen Mode entsprach, nach hinten, als es erneut an der Tür klopfte.
Nur mit einem Handtuch bekleidet, floh sie ins Badezimmer und rief: »Herein!«
Eines der Mädchen schob einen ledernen Koffer auf einem Gepäckwägelchen herein. »Ein Herr hat diesen Koffer für Sie vorbeigebracht, Madam«, hörte sie das Zimmermädchen sagen. »Er lässt Ihnen ausrichten, er sei so frei – und bitte Sie für seine Kühnheit um Verzeihung –, Ihnen ein paar Kleider seiner Schwester zu schicken, falls Sie sich davon bedienen mögen.«
Grace streckte den Kopf um die Badezimmertür herum.
»Er sagte, er habe sich gedacht, Sie hätten womöglich nicht das Passende für die Jahreszeit«, fuhr sie fort, »wo Sie doch erst ganz frisch in der Stadt sind.«
Grace verkniff sich ein Lächeln. Wie nett von James, wie aufmerksam. »Danke. Und bitte richten Sie dem Herrn meinen ausdrücklichen Dank aus«, sagte sie.
»Er sagte, er würde sich freuen, sich mit Ihnen in einer halben Stunde unten zu treffen«, sagte das Zimmermädchen, bevor es ging.
Grace machte den Koffer auf und fand mehrere Kleider mit jeweils dazu passendem Umhang, die vermutlich einmal Susannah Solent gehört hatten und in Stil und Eleganz dem entsprachen, was einer jungenDame der Gesellschaft gebührte. Grace schaute die Sachen durch und fand ein gerafftes Kleid in lebhaftem Türkis mit Perlenknöpfen. Sie schüttelte die Falten aus, erwog eine kurze Weile das Für und Wider, die Kleider eines toten Mädchens zu tragen, kam jedoch alsbald zu dem Schluss, dass Susannah Solent, so freundlich, wie sie offenbar gewesen war, wohl nichts dagegen hätte.
Nachdem sie sich angekleidet hatte, blickte Grace in den Spiegel, um das Ergebnis in Augenschein zu nehmen, und hätte beinahe laut lachen müssen, so verändert war ihre ganze Erscheinung. Sie hatte so lange Schwarz getragen – und davor nur düstere, ausgewaschene Farben –, dass sie sich in dieser leuchtenden Farbe vorkam wie eine gänzlich andere Person. Einen zum Kleid passenden türkisfarbenen Hut mit aufgenähten weißen Blumen auf der Krempe gab es auch noch, und den drückte sie nun über ihren Locken fest und hoffte, dass sie für den bevorstehenden Tag gut gewählt hatte. Das Einzige, was ihr modisches Outfit verdarb, war die Tatsache, dass sie keine eleganten Schuhe dazu hatte, aber so musste sie eben mit den schwarzen Schnürstiefeln, die sie von den Unwins erhalten hatte, vorliebnehmen.
James erwartete sie bereits unten in der Hotelhalle und sprang auf, sobald sie auf der Treppe erschien.
»Es war dir also nicht zu aufdringlich?«, sagte er,nachdem er ihr ein Kompliment zu ihrem Aussehen gemacht hatte. »Du fandest nicht, dass es zu kühn von mir war, dir die Sachen zu schicken?«
Grace schüttelte den Kopf. »Ich hätte in diesen Trauerkleidern nicht nach draußen gehen können. Wirklich, ich hätte das nicht mehr gekonnt!«
»Was hättest du dann gemacht, wenn ich dir die nicht geschickt hätte?«, fragte er amüsiert.
»Dann hätte ich wohl einen Vorhang abschneiden und mir etwas daraus basteln müssen!«, erwiderte sie lachend.
Vor dem Hotel standen wartende Mietkutschen bereit. Ein Hoteldiener winkte eine herbei, und James half Grace hinein und legte ihr eine Reisedecke um. Als der Kutscher seine Peitsche knallen ließ und Grace sich in die Sitzpolster zurücklehnte, überkam sie auf einmal ein Bewusstsein der Tragweite, die dieser Vormittag womöglich für sie haben konnte, und sie fing heftig an zu zittern.
»Mein liebes Mädchen, ist dir kalt?«, fragte James.
»Es ist nicht Kälte«, sagte Grace mit einem Schaudern, »sondern Furcht. Denn sie wissen es doch inzwischen, oder? Das von …?«
»Von ihm?« James neigte bedeutungsvoll den Kopf zur Seite, und Grace nickte. Er brachte eine Zeitung zum Vorschein, die er unter dem Mantel verborgen hatte, und fragte Grace in beiläufigem Gesprächston: »Hast du heute Morgen schon einen Blick in die Zeitung geworfen?«
Grace schüttelte nervös den Kopf. »Nein, habe ich nicht.«
Er faltete den
Mercury
auf. »Einer der führenden Geschäftsmänner Londons wurde tot aufgefunden. Der, dem das Trauerbekleidungshaus in der Oxford Street gehörte.«
»Wie … wie ist er denn …?«, hob Grace an, doch sie konnte nicht weitersprechen, so heftig ging auf einmal ihr Atem.
»Da … sieh selbst.« Er strich die Seite glatt und reichte ihr die Zeitung.
Grace sah nur die Worte SYLVESTER UNWIN – VERMUTLICHER
Weitere Kostenlose Bücher