Geheimsache Labskaus
schnell er konnte.
Das war knapp gewesen. Aber es hatte sich gelohnt. Er hatte den Beweis für seine Unschuld gefunden! Der Beißer war von Erpressern entführt worden, und der Brief aus dem Rezeptbuch war der Beweis dafür. Jetzt musste die Polizei ihn aus dem Heim entlassen! Zack fühlte in seiner Hosentasche nach dem Blatt Papier. Seine Finger ertasteten ein altes Taschentuch und einen schon mehrmals benutzten, zähen Kaugummi.
Sonst nichts. Er probierte die anderen Taschen. Aber die waren leer.
Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Der Beweis seiner Unschuld lag noch im Auffangfach des Kopiergeräts, unerreichbar weit weg.
Freitag, 24. Juli, 3.15 Uhr
Paloma Hansen kam in letzter Zeit oft nachts in ihr Büro. Nur wenn alle anderen im Heim schliefen, war sie wirklich ungestört. Und ungestört wollte sie sein, wenn sie ausrechnete, wie viel mehr Geld sie verdient hatte, seit ihr dieser fantastische Einfall gekommen war. Wer hätte gedacht, dass sich Pökelfleisch so leicht durch ein Gemisch aus trockenem Brot und altem Frittierfett ersetzen ließe. Wie billig die Herstellung plötzlich geworden war!
Durch ihren kleinen Trick hatte die Direktorin bereits Tausende von Euro gespart – die sie nun an anderer Stelle ausgeben konnte. Endlich war genug Geld da, um ihren Pudel zum besten Hundefrisör in ganz Norddeutschland zu schicken. Im „Salon Lefze“ hatte sie 800 Euro für Raissas neues Styling und Zubehör bezahlen müssen. Aber es hatte sich gelohnt – mit seinem Schleifchen und der schönen neuen Frisur passte der Hund einfach hervorragend zu ihr.
Bisher waren die neuen Zutaten im Labskaus noch niemandem aufgefallen. Auf den Dosen stand natürlich noch „feinstes Pökelfleisch“ und nicht „Jetzt neu: mit Altöl und Semmelbröseln“. Aber solange es den Leuten schmeckte, mussten die wirklich nicht so genau wissen, was sie da aßen. Nicht einmal die Kinder hatten bisher Verdacht geschöpft. Paloma Hansen war vorsichtig genug, den Fleischersatz schon fertig vermengt, hübsch rot eingefärbt und zu handlichen Fladen gepresst anliefern zu lassen. Auch Anderling hatte keinen Unterschied bemerkt. Hansen kicherte: Anderling. Der merkte ohnehin nicht viel – aber er war eine treue Seele.
Als Paloma Hansen auf ihren hohen Absätzen den Gang im ersten Stock des Haupthauses entlangtrippelte, hörte sie plötzlich ein Klirren. Sie blieb stehen. Das Geräusch musste aus der Kammer gekommen sein, direkt neben ihrem Büro. Schnell schloss sie die Tür auf und knipste das Licht an. Mit nervösem Klimpern sprang die Leuchtstoffröhre an und warf ihr kaltes Licht auf die hohen Regale voller Aktenordner. Und auf die geborstene Fensterscheibe am hinteren Ende des Zimmers.
„Merkwürdig“, murmelte Hansen, ging ans kaputte Fenster und spähte ins Dunkel hinaus. Bis zum Zaun, der gerade noch schemenhaft vorm Waldrand auszumachen war, war nichts, aber auch gar nichts zu sehen. Scherben knirschten unter ihren Schuhen, und beinahe wäre sie auf den schweren Messingrahmen getreten. Sie kniete nieder, um ihn aufzuheben. Durch das gesprungene Glas des Rahmens blickte sie Raissa mit treuen Pudelaugen an. „Meine Süße“, flüsterte die Heimleiterin, „wie kommst du denn hierher?“
Jemand musste das Bild aus ihrem Büro entwendet und damit die Scheibe eingeworfen haben. Aber wer? Und warum? Paloma Hansen spürte, wie sie Kopfschmerzen bekam. Sie musste der Sache umgehend auf den Grund gehen.
Den Schlüssel zu ihrem Büro konnte sie an ihrem dicken Schlüsselbund blind ertasten. Sie schob ihn ins Schlüsselloch, drehte und – nichts geschah. „Das gibt’s doch gar nicht“, flüsterte sie und öffnete die Tür, die offenbar nicht abgeschlossen gewesen war.
Langsam ließ sie den Blick durch den Raum schweifen. Das Fenster stand offen. Und sie hatte wohl vergessen, den Kopierer auszumachen. Ansonsten aber sah alles aus wie immer. Was hatte das zu bedeuten? Das dumpfe Wummern in ihren Schläfen wurde stärker. Hansen stützte die Ellbogen auf die Schreibtischplatte und nahm den Kopf zwischen die Hände. Tief durchatmen! An etwas anderes denken.
Sie ging zum Regal und zog einen dicken Ordner heraus. Der enthielt die Rechnungen und Lieferscheine der Betriebe, von denen „Elbstrand-Konserven“ mit den Zutaten für das Labskaus versorgt wurde: Kartoffeln vom Hof Nunxlos in Dithmarschen, Fisch von „Fritze und Sohn“, Pökelfleisch … eben nicht mehr! Das war immer der kostspieligste Teil der Produktion gewesen.
Weitere Kostenlose Bücher