Geheimsache Labskaus
Und nun kam seit gut sechs Wochen kein teures Fleisch mehr in das Labskaus aus dem Kinderbesserungsheim Elbstrand. Dass Hansen seit ebenfalls gut sechs Wochen dieses Gericht nicht mehr angerührt hatte und das Abschmecken stets Anderling überließ, schien niemandem aufgefallen zu sein. Oder doch?
Sie blickte das Bild des Hundes an, und ihre Augen füllten sich mit Tränen: „Arme Raissa, Frauchen denkt an dich. Aber was soll ich denn tun?“ Sie schneuzte sich kurz, stand entschlossen auf und ging zum Kopierer, um die letzten Lieferscheine fürs Finanzamt zu vervielfältigen. Ihr Kopf fühlte sich fast wieder normal an.
Dann sah sie das Blatt im Auffangfach des Kopierers liegen. Sie nahm es heraus und hielt es sich dicht vor die Augen.
Mit einem Mal war das Wummern zurück. Stärker als zuvor.
Freitag, 24. Juli, 6.30 Uhr
Als Zack am nächsten Morgen todmüde zum Frühdienst schlurfte, hielt Anderling ihn auf und schnauzte: „Du sollst dich bei der Direktorin melden.“
„Was will die denn von mir?“, fragte Zack misstrauisch.
„Ich schätze mal nichts Gutes.“
Zack gähnte heftig und setzte sich in Bewegung. Vermutlich hatte Hansen die Kopie gefunden. Aber sie konnte ja kaum beweisen, dass Zack sie gemacht hatte! Oder hatte sie ihn gestern Nacht bei der überstürzten Flucht etwa doch gesehen? Unmöglich! Wahrscheinlich wollte Hansen ihm nur sagen, dass er wegen guter Mitarbeit nicht mehr zur Nachtschicht musste. Oder dass seine Schwester ihn heute abholen käme.
Zack klopfte an Hansens Bürotür.
„Ja, bitte!“ Hansen saß majestätisch in ihrem gepolsterten Ledersessel. Zack sah, dass sie den Rahmen mit Raissas Portrait wieder auf den Schreibtisch gestellt hatte, obwohl das Glas gesprungen war. Es gab keinen Stuhl für ihn, also blieb er vor dem Tisch stehen.
„Bitte, sei ehrlich zu mir. Wo warst du letzte Nacht?“, fragte Hansen, ohne Zeit für eine Begrüßung zu verschwenden. „Ich war erst beim Nachtdienst, Frau Hansen, ich meine natürlich: Frau Direktorin Hansen, und anschließend im Bett. Macht ja ordentlich müde, die Arbeit hier“, sagte Zack und bemühte sich um ein unschuldiges Chorknaben-Lächeln – vergebens.
„Lüg nicht!“, brach es aus Hansen heraus. „Und wenn du nächstes Mal meinen Kopierer benutzt, mach ihn hinterher aus!“
Zack starrte sie an. „Okay, ruhig bleiben“, dachte er. „Sie verdächtigt dich, ist doch klar. Lass dich nicht einschüchtern, sie will ja nur, dass du dich verrätst.“
„Frau Direktorin, ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden!“ Er versuchte, verwundert und ratlos zu klingen.
Paloma Hansen griff mit spitzen Fingern nach dem Blatt Papier, das vor ihr lag. Wie in Zeitlupe schob sie ihm den Zettel hin. Es war die Kopie des Erpresserbriefs. Und darauf ganz deutlich zu sehen: sein Zeigefinger mit dem unsäglichen Schlümpfe-Pflaster.
Freitag, 24. Juli, 11.49 Uhr
Am selben Vormittag betrat Oskar völlig abgehetzt das Besuchszimmer des Kinderbesserungsheims. Weil ihm die S-Bahn vor der Nase davongefahren war, war er zwanzig Minuten zu spät dran. So ein Mist! Schlimm genug, dass er Zack noch nicht aus diesem Heim befreit hatte. Jetzt kam Oskar auch noch zu spät zu ihrer Verabredung.
Er sah sich in dem kahlen Zimmer um und wunderte sich, dass er seinen Freund nirgends sehen konnte. Sie hatten doch ausgemacht, dass er heute morgen zu Besuch kommen würde. Oskar konnte kaum abwarten, was Zack zu berichten hätte: Schließlich hatte er versprochen, Hansen nach ihrem Pudel zu fragen. An der Wand des Zimmers lehnte Anderling. Fast alle Stühle waren schon besetzt, nur ein einziger Platz war noch frei – gegenüber einem stämmigen Mädchen mit Pferdeschwanz. Jetzt winkte es verstohlen jemandem zu. Oskar sah sich um. Da war niemand. Außer ihm selbst. Er sah wieder hin. Die mit dem Pferdeschwanz blickte ihn an und nickte. Sie hatte ihn gemeint! Oskar ging zu ihr und setzte sich. „Lass dir nichts anmerken, sonst wirft Anderling dich raus“, sagte sie leise. „Zack kann nicht kommen.“
„Und wer bist du?“, fragte Oskar verdattert.
„Elektra“, murmelte sie. „Pass auf, Zack hat Besuchsverbot. Er ist seit heute Morgen in Einzelhaft.“
„Einzelhaft? So was gibt es hier?“, rief Oskar erschrocken.
„Psst, nicht so laut!“
„Und wieso sitzt er in Einzelhaft?“
„Ich bin mir nicht sicher. Aber ich schätze, weil wir in Hansens Büro eingebrochen sind“, flüsterte Elektra.
Eingebrochen! Oskar schien es, als hätte dieses
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