Gehen (German Edition)
(oder in Marburg) sein, weil Hollensteiner nicht in Göttingen und nicht in Marburg ist, Hollensteiner gibt es nicht mehr. Wir haben Hollensteiner auf dem Döblinger Friedhof begraben, auch das ist falsch. Wir sind auch, was Hollensteiner betrifft, mit unserer absoluten Hilflosigkeit (des Denkens) alleingelassen. Was wir tun, ist, uns im Meditieren über unauflösliche Tatsachen erschöpfen, worunter wir Denken nicht verstehen, was wir aber als Denken bezeichnen, sagt Oehler. Wir machen uns unsere Unruhe wieder bewußt, indem wir uns mit Hollensteiner und mit Hollensteiners Selbstmord und mit Karrers Verrücktheit, die wie ich glaube, ganz unmittelbar mit Hollensteiners Selbstmord zusammenhängt, befassen. Wir mißbrauchen selbst ein Thema wie das über Hollensteiner in Beziehung zu Karrer, um uns Befriedigung zu verschaffen. Eine merkwürdige, gar nicht als Rücksichtslosigkeit erkennbare Rücksichtslosigkeit beherrscht einen Menschen wie Hollensteiner, sagt Oehler, und dieser Rücksichtslosigkeit verfallen wir unweigerlich, wenn wir erkennen, daß sie ein unglaublich scharfsinniger Gefühlszustand ist, von welchem wir auch sagen können, ein Geisteszustand. Wer Hollensteinergekannt hat, mußte sich ab und zu fragen, wohin die Art und Weise Hollensteiners führt. Heute sehen wir ganz deutlich, wohin die Art und Weise Hollensteiners geführt hat. Mit Karrer zusammen handelt es sich bei Hollensteiner um die zwei ungewöhnlichsten Menschen, die ich kennengelernt habe, sagt Oehler. Zweifellos hat die Tatsache, daß sich Hollensteiner in seinem Institut aufgehängt hat, demonstrativen Charakter, sagt Oehler. Die Erschütterung über Hollensteiners Selbstmord ist aber, wie alle diese Erschütterungen über Selbstmorde, die kürzeste gewesen. Ist der Selbstmörder eingegraben, ist sein Selbstmord und ist er selbst vergessen, kein Mensch denkt mehr daran und die Erschütterung stellt sich als Heuchelei heraus. Zwischen dem Selbstmord Hollensteiners und dem Begräbnis Hollensteiners ist viel über die Rettung des Chemischen Instituts gesprochen worden, sagt Oehler, daß man jetzt dem Nachfolger Hollensteiners, als ob es einen solchen gibt!, ruft Oehler aus, die Mittel, die man Hollensteiner verweigert hat, zur Verfügung stellen werde, die Zeitungen schrieben davon, daß das Ministerium eine sogenannte umfangreiche und tiefgreifende Sanierung des hollensteinerschen Instituts vornehmen wolle, auf dem Begräbnis selbst ist die Rede davon gewesen, der Staat werde jetzt an dem chemischen Institut gutmachen, was er bis jetzt an dem chemischen Institut versäumt habe, aber heute, ein paar Wochen danach, sagt Oehler, ist das alles so gut wie vergessen. Hollensteiner demonstriert, indem er sich in seinem Institut aufhängt, die ganze Notlage der ganzen heimischen Wissenschaft, sagt Oehler und die Welt und also die Umwelt Hollensteiners heuchelt Erschütterung und geht auf Hollensteiners Begräbnis und vergißt in dem Augenblick, in welchem Hollensteiner begraben ist, alles, was mit Hollensteiner zusammenhängt. Heute spricht kein Mensch mehr von Hollensteiner und kein Mensch spricht mehr von seinem Chemischen Institut und kein Mensch denkt mehr daran, den Zustand, der zu HollensteinersSelbstmord geführt hat, zu ändern. Und dann macht wieder einer Selbstmord, sagt Oehler und wieder einer und es wiederholt sich der gleiche Vorgang. Langsam aber sicher vollzieht sich auf diese Weise die vollkommene Auslöschung der Geistesaktivität dieses Landes, sagt Oehler. Und was wir mit Hollensteiner auf seinem Gebiet beobachten, können wir auf allen anderen Gebieten der Wissenschaft beobachten, sagt Oehler. Bis jetzt haben wir uns immer gefragt, ob es sich ein Land und ein Staat leisten kann, seinen Geistesbesitz in so hundsgemeiner Weise verkommen zu lassen, sagt Oehler, aber jetzt stellt sich diese Frage gar nicht mehr. Karrer hat von Hollensteiner als von einem Musterbeispiel eines Menschen gesprochen, dem nicht zu helfen sei, weil er außerordentlich sei, ungewöhnlich. Den Begriff des Exzentrischen erklärte Karrer mir in Zusammenhang mit Hollensteiner vollkommen klar, sagt Oehler. Handelte es sich um ein weniger elementares, um ein distanziertes Verhältnis zwischen ihm, Karrer und Hollensteiner, habe Karrer zu Oehler gesagt, machte er, Karrer, Hollensteiner zum Inhalt einer Schrift unter dem Titel Die Beziehung zwischen Menschen und Charakteren wie Hollensteiner als Chemiker zu dem sie nach und nach auf das konsequenteste zerstörenden
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