Gehen (German Edition)
Zwecken und in gleich was für einer wissenschaftlichen Disziplin zu arbeiten, die ihr unerträglich ist. Und es wäre sinnlos, sagt Oehler, aus einem Land, das man liebt, in welchem man aber nach und nach, wie man sieht, in einem Morast aus Gleichgültigkeit und Dummheit zugrundegehen muß, in ein Land zu gehen, in welchem man aus der gegen dieses Land entwickelten Depression nicht mehr herauskommt, aus einem Zustand, der einen genauso nach und nach zugrunde richten muß; dann lieber Selbstmord begehen in dem Land, das man, wenn auch nur aus Gewohnheit, liebt, sagt Oehler, als in dem Land, das man, ganz offen gesprochen, haßt. Leute wie Hollensteiner seien die schwierigsten, zugegeben, sagt Oehler und es sei nicht leicht mit ihnen Kontakt zu behalten, weil einen diese Leute fortwährend vor den Kopf stoßen, wie es ja immer die Eigenschaft des Außerordentlichen sei, seine hervorstechendste Eigenschaft, vor den Kopf zu stoßen, aber andererseits gibt es doch auch keinen größeren Genuß, als in Kontakt mit solchen schwierigsten Leuten zu sein. Wir müssen alles daran setzen, sagt Oehler, und darauf immer ganz bewußt den größten Wert legen, gerade mit den schwierigsten Leuten in Kontakt zu sein, mit den Außerordentlichsten und Außergewöhnlichsten, weil nur dieser Kontakt tatsächlich Wert hat. Alle anderen Kontakte sind wertlos, sagt Oehler, sie sind notwendig, aber wertlos. Schade, sagt Oehler, daß ich Hollensteiner nicht schon viel früher begegnet bin, aber eine merkwürdige Vorsicht diesem Menschen gegenüber,den ich immer bewundert habe, muß ich sagen, sagt Oehler, hat mich erst viel später, erst mindestens zwanzig Jahre, nachdem ich Hollensteiner zum erstenmal gesehen habe, mit Hollensteiner engeren Kontakt aufnehmen lassen, und auch da war dann dieser Kontakt nicht der intensive, den ich mir gewünscht habe. Diese Leute wie Hollensteiner, sagt Oehler, lassen einen auch nicht an sich herankommen, sie ziehen einen an und stoßen einen immer im entscheidenden Moment wieder ab. Wir glauben, wir stehen in einem engeren Verhältnis zu diesen Leuten, während wir in Wirklichkeit niemals mit solchen Leuten wie Hollensteiner in einem engeren Verhältnis stehen können. Tatsächlich sind wir solchen Leuten wie Hollensteiner verfallen, ohne genau zu wissen, was die Ursache solchen Verhaltens ist. Denn einerseits ist es tatsächlich nicht die Person, andererseits auch nicht ihre Wissenschaft, denn beide verstehen wir ja überhaupt nicht. Es ist etwas, von dem wir nicht sagen können, was es ist, und das dadurch auf uns die größte Wirkung hat. Dann muß man schon wie Karrer mit einem Menschen wie Hollensteiner in die Volksschule und in das Gymnasium und in die Hochschule, also auf eine Universität gegangen sein, um zu wissen, was es ist, sagt Oehler. Ein Mensch wie ich, weiß es nicht. Mit tatsächlich erschreckender Hilflosigkeit kommentieren wir eine Sache oder einen Fall oder ganz einfach ein Unglück, wie die Sache und wie den Fall oder wie ganz einfach das Unglück Hollensteiners. Darüber habe ich genau an dieser Stelle mit Karrer gesprochen, nachdem wir ein paar Stunden vorher auf dem Begräbnis Hollensteiners gewesen sind. Allein auf dem Döblinger Friedhof, sagt Oehler, auf welchem wir Hollensteiner begraben haben und auf die einfachste Art und Weise begraben haben, er wünschte sich naturgemäß ein sehr einfaches Begräbnis, sagt Oehler, er hatte Karrer gegenüber einmal die Andeutung gemacht und zwar schon sehr früh, schon mit einundzwanzig Jahren, die Andeutung gemacht, daß er ein sehr einfaches Begräbnis wünsche, alleinauf dem Döblinger Friedhof, sagt Oehler, sind so viele außerordentliche Menschen begraben, die alle vom Staat zugrunde gerichtet worden sind, die gescheitert sind an der Brutalität der Bürokratie und an der Stumpfsinnigkeit der Masse. Wir kommentieren eine Sache oder einen Fall oder ganz einfach ein Unglück und fragen uns, wie hat es zu diesem Unglück kommen können?, wie ist das Unglück möglich gewesen?, wir vermeiden absichtlich, von einer sogenannten menschlichen Tragödie zu sprechen. Wir haben einen Einzelmenschen vor uns und müssen uns sagen, daß dieser Einzelne am Staat, umgekehrt aber auch der Staat an diesem Einzelnen gescheitert ist. Jetzt ist es einfach, zu sagen, es handelt sich um ein Unglück, sagt Oehler, um ein solches dieses Einzelnen wie um ein solches dieses Staates. Es ist unsinnig, sich jetzt zu sagen, Hollensteiner könnte jetzt in Göttingen
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