Gehetzt - Thriller
Mist in der Welt.
Alles in ihr zog sie zurück nach Texas, doch gleichzeitig hatte sie das Gefühl, als ob sie ihrem Verhängnis entgegensteuerte. Es war ein merkwürdig befreiendes Gefühl, sie fühlte sich beinahe schwindelig und leicht, als ob sie sich in der sichernden Macht der Schwerkraft befände und zugleich durch irgendeinen merkwürdigen Ort der Schwerelosigkeit schwebte. Oder vielleicht war es auch wie im Gravitron, das jedes Jahr auf der großen Breard-County-Kirmes aufgebaut wurde, jenem sich schnell drehenden Zylinder, dessen zentrifugale Kräfte die Mitfahrenden an die Seiten presste, während unter ihnen der Boden wegklappte. Sie war sechs gewesen, als sie das erste Mal mit Kevin mitgefahren war, und danach hatte sie ihn zu weiteren fünf Fahrten gedrängt, obwohl sie sich jedes Mal wieder in der Schlange hatten anstellen müssen.
Diane musste zurück. Es war einfach so. Sie sah hinaus auf Chicago. Sie könnte niemals in so ei ner Stadt leben. Wegen all des Umgebungslichts konnte man kaum mehr als drei oder vier Sterne sehen. Es war die reinste Lichtverschmutzung. Nacht sollte Nacht sein, erleuchtet nur vom Mond und den Sternen, nicht von Neon und Straßenlaternen.
»Diane?« Gail setzte sich auf.
Diane ging zurück zu ihrem Bett und setzte sich, Gail zugewandt, im Schneidersitz darauf.
»Weißt du, warum ich nicht schlafen kann?«
Gail schüttelte den Kopf und wartete.
»Ich bin einfach nicht der Typ, den es auf der Suche nach Ruhm und Reichtum in irgendeine große Stadt zieht. Ich mag Breard County. Und um ehrlich zu sein, ich habe es durchaus ernst gemeint, als ich dir erzählt habe, dass ich vorhatte, den Dienst bei der Polizei zu quittieren und auf die Uni zu gehen.
Aber dann ist dieser ganze Schlamassel passiert. Ich hatte es irgendwie satt, Polizistin zu sein.«
»Vielleicht solltest du deine Pläne verwirklichen.«
»Ich wusste noch gar nicht, dass inzwischen auch entflohene Strafgefangene zum Studium zugelassen werden. Sehr liberal.«
»Diane, nichts ist mehr so, wie es war. Du kannst unmöglich zurück. Du musst dir eine neue Existenz aufbauen.«
»Weißt du, wie man das anstellt? Ich bin nämlich nicht so sicher, ob ich es weiß.«
»Als Erstes müssen wir dich mit einem neuen Schulabschluss ausstatten. Nicht, dass du nicht bereits einen hättest. Aber du brauchst einen unter neuem Namen.«
»Vielleicht könntest du mir dann auch gleich bessere Noten verschaffen.« Diane lachte. »Ich bräuchte mindestens einen Notendurchschnitt von 1,3.«
»Diane, ich meine es ernst. Allerdings bleiben wir bei den Noten ehrlich. Denk an den Song von Bob Dylan: To live outside the law, you must be honest.«
»Sollte nur ein Scherz sein.«
»Klang aber so, als hättest du es ernst gemeint.«
»Hab’ ich aber nicht.«
»Die Idee ist nicht schlecht. Du könntest sie wirklich in die Tat umsetzen. Du müsstest dich irgendwo niederlassen, einen Job finden, dich für ein Jahr oder so in dei nem neuen Leben einrichten. Und dann könntest du anfangen, dich an Unis zu bewerben. Im Grunde ist es eine sehr gute Möglichkeit, dich in ein neues Leben hineinzufinden.«
»Ich bin nur nicht sicher, dass ich mit meinem alten schon abgeschlossen habe.«
»Hör auf deine innere Stimme, Diane. Was du da vorhast, ist eine Superidee. Ich weiß nicht mehr, ob es Watson war oder Crick, du weißt schon, die beiden Typen, die die Molekülstruktur
der DNA entschlüsselt haben. Einer von ihnen hat mal erzählt, wie er entschieden hat, was er mit seinem Leben anfangen wollte: Er hat gesagt, dass du einfach nur auf die Stimme in deinem Kopf hören solltest. Dass da immer irgendetwas ist, irgendein Thema, das in deinen inneren Zwiegesprächen immer wiederkehrt. Und genau das sei das, was du verfolgen solltest.«
Diane legte sich auf ihr Bett und kroch unter die Decke. »Vielleicht sollte ich tatsächlich anfangen, intensiver auf meine innere Stim me zu hören.« Aber sie kannte ihre innere Stimme bereits. Bestens. Zumindest diejenige, die das Sagen übernommen hatte, nachdem der Beamte der Bundesdrogenbehörde sie auf ihre Rechte hingewiesen hatte. Und diese Stimme meldete sich immer nachdrücklicher zu Wort.
Gail schüttelte ihr Kopfkissen auf, ein richtiges Kissen, weich und frisch. Und die Matratze war auch angenehm. Sie erinnerte sich an die Familienurlaube ihrer Kindheit, wenn sie in einem Holiday Inn abgestiegen waren, nachdem sie den ganzen Tag im Auto eingesperrt gewesen waren, und ihr Vater ihr
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